Donnerstag, 27. September 2018

Into the Bushes

Heute habe ich einen sturmfreien Tag – während Lizzy, Anya und Sean in die Stadt nach Nairobi fahren, bleibe ich lieber hier und genieße die Natur. Stadt hatte ich ehrlich gesagt mehr als genug in letzter Zeit, und Käseverkostungen, Kletterhallen und Shoppingmalls haben keine so hohe Anziehungskraft auf mich wie Vögel, Bäume und Ruhe. Also mache ich mir einen „wilden“ Tag – ein paar Stretches, gemütliches Frühstück draußen in der Sonne – scanne die umliegenden Berge und suche mir einen aus, den ich bezwingen möchte. Dann packe ich meinen Rucksack (eine Flasche Wasser, Taschenmesser, Pullover, falls ich nicht vor Nachteinbruch zurückkomme, Streichhölzer, Handy) und marschiere los. In Buschfarben und Barfußschuhen. Es ist ein schönes Gefühl, Sand, Felsen, Unterholz, Äste, immer wieder auch Äste von Akazien – ich hatte schon fast vergessen, wie es ist, sich ständig Dornen aus der Haut zu ziehen. Da ich den Berg nicht kenne und auch nicht weiß, ob es überhaupt Pfade gibt, die nach oben führen, nehme ich zunächst den direkten Weg – und der führt durch den das Gelände umgebenden Elektrozaun. Ich brauche bestimmt zehn Minuten, um den Mut für einen Test zusammenzunehmen – die Alternative wäre ein endloser Umweg gewesen. Zuerst lausche ich in den Draht, dann tippe ich ihn mit dem Fuß an, darauf gefasst, dass gleich eine heftige Ladung Strom durch meinen Unterkörper schießt – aber ich habe Glück. Nach weiteren Tippversuchen mit dem Fuß und schließlich mit der Hand klettere ich durch eine der Maschen hindurch und mache mich auf in die Büsche. Da ich keinen Pfad finde, folge ich vereinzelten Antilopenpfaden durchs Gestrüpp – die absolut häufigsten Antilopen hier sind die klitzekleinen Dikdiks, nicht viel größer als Feldhasen, und dementsprechend sehen auch ihre Pfade aus. Sie eignen sich eigentlich nicht für ein Säugetier, das größer ist als ein Lamm. Es geht bergauf, es ist steil, rutschig, und einfach nur dickes, dorniges Gestrüpp, das mich zerkratzt, Blätter und Staub auf mich regnen lässt und mir akrobatische Verrenkungen abverlangt. Ich keuche und puste, das ist definitiv eine andere Art des Extrem“sports“, allerdings bin ich mir unsicher, ob mir der Kratzfaktor so viel Spaß macht. 

Man denkt plötzlich so anders, trifft ganz intuitive, moment-orientierte Entscheidungen – wenn ich abrutsche, muss ich mein Gewicht nach vorn werfen, auch wenn das bedeutet, mein Gesicht frontal in dornige, kratzende Äste zu schlagen – ich trainiere mich mental für einen solchen Fall, damit ich bereit bin, das kleinere Übel zu wählen statt dem Instinkt zu folgen, kratzigen Ästen im Gesicht auszuweichen und dann aufgrund der Gewichtsverlagerung womöglich nach hinten in die Tiefe zu stürzen. 

Nach einer guten Viertelstunde Extremkraxeln treffe ich auf einen Pfad – menschengemacht, ganz offensichtlich, und freigeschnitten – und freue mich sehr, endlich wieder aufrecht gehen zu können. Gleichzeitig bin ich aber auch vorsichtig – es gibt auf dem Gelände viele sogenannte „Snares“, illegale Schnapp-/Drahtfallen, die von Wilderern ausgelegt wurden, und es werden nicht nur Tiere gewildert, sondern auch Bäume (für Kohle, die dann verkauft wird). Sprich, meine Chancen, auf jemanden zu treffen, der nicht gefunden werden möchte, sind jedenfalls nicht bei Null… ich schleiche mit meinen Barfußschuhen höher und höher, aber es scheint niemand hier zu sein. Es geht immer weiter nach oben auf dem Pfad; meine Quads brennen, und ich klettere mich selbst außer Atem. Es ist inzwischen heiß, und ich habe schon über die Hälfte des Wassers ausgetrunken, das ich mir mitgebracht hatte. Auch das habe ich vergessen – wie viel Wasser man braucht, wenn man sich in der afrikanischen Sonne körperlich betätigt! Ich bin noch nicht mal halb oben und muss bereits meinen Wasserverbrauch rationalisieren. Jetzt nur noch ein Schluck pro Stopp. Der Pfad führt mich höher und höher, an weidenden Rindern vorbei – der Rinderhirte versteckt sich vor mir, was mir nicht unrecht ist – und es wird immer gebirgiger. Nach einer Zeit wird die Vegetation dünner, wofür ich aufrichtig dankbar bin. Die Haut an meinen Armen, Beinen und Händen blutet schon aus zahlreichen kleinen Kratzern und den Einstichstellen von Dornen – es ist zu schön, nur noch durch halbhohes Gras zu streunen, auch wenn die scharfen Grassamen die gereizte Haut meiner Beine ebenfalls herausfordern. Der letzte Abschnitt bis hoch zum „Gipfel“ ist noch einmal extrem herausfordernd. Ich klettere-rutsche-krabbele einen extrem rutschigen Steilhang aus lockeren Schiefersteinen nach oben – man soll sich ja eigentlich nicht umdrehen, ich tu es aber doch. Es ist seltsam, dieser Gedanke, du könntest jetzt abrutschen und im schlechtesten Fall sterben, gepaart mit dem kitzeligen Gefühl, dass das hier zwar höchste Konzentration erfordert, aber mir nichts passieren wird. 


Natürlich komme ich sicher oben an. Schweißnass und keuchend genieße ich die Aussicht und das berauschende Gefühl. So this is Great Rift Valley. Man sieht nach vorn so weit über die graubeigen, staubigen Flächen, die ganz weit hinten durch eine sanfte Bergkette begrenzt wird. Ich atme durch und trinke einen Schluck Wasser mit dem Gefühl, dass ich den wirklich verdient habe. Ein schönes Gefühl, das ich lange nicht mehr hatte… wann denkt man schon mal dankbar darüber nach, Wasser trinken zu dürfen – normalerweise sorgt doch jeder immer nur mehr oder weniger griesgrämig dafür, auf die empfohlenen 2-3 Liter pro Tag zu kommen.

Auf der Ebene hier grasen Ziegen, leise bimmelnd mit ihren Glöckchen, und ich fühle mich fast wie „zu Hause“ in den Alpen. Die beiden Ziegenhirten starten einen kurzen gut koordinierten Versuch auf mich (als ich dem einen entkomme, ruft er den anderen in Swahili dazu, der dann um die Ecke läuft um mich auf meinem „Fluchtweg“ noch einmal abzufangen), aber sie lassen sich relativ problemlos abwimmeln – das wäre in Südafrika vielleicht anders ausgegangen. Hier bemerkt man schon deutliche Unterschiede zwischen den beiden Ländern.

Über den Rückweg will ich eigentlich gar nicht nachdenken. Der erste Teil war angenehm, wie ein alpiner Abstieg eben, über Felsen und Sand und so weiter – der letzte Teil gestaltet sich extrem nervtötend. Ich verliere wieder einmal meinen Pfad und finde mich in den nervigen Dikdik-Tunneln wieder, und diesmal folge ich ihnen eine gefühlte Ewigkeit, ohne Aussicht, jemals wieder herauszukommen. Irgendwann bin ich so tief drin, dass es nicht einmal mehr Sinn machen würde, umzudrehen und den Hang wieder hinaufzukraxeln – jetzt muss ich wohl durch. Spaß macht es absolut keinen. Immer wieder schrabbele ich auf Po, Ellenbogen und Füßen durch die kratzigen Tunnel, weil es nicht einmal im gebückten Zustand zu schaffen ist. Ich höre auf zu zählen, wie oft mir ein scharfer Zweig ins Gesicht oder gegen den Schenkel klatscht wie eine Reitgerte, wie oft ich mir die Haut aufreiße oder mir Dornen in die Hände stoße bei dem Versuch, mich abzustützen. Ständig muss ich mich gewaltsam durch Gestrüpp zwängen, das zur Strafe tonnenweise alte Blätter, Zweigstückchen, Staub und Insekten auf mich herabregnen lässt. Diese Mischung klebt hervorragend auf schweißfeuchter Haut, insbesondere im Genick, auf der Kopfhaut und in der Unterwäsche, und sie sorgt für einen Juckreiz der Extraklasse. Zwei- oder dreimal bleibe ich einfach mitten im Gestrüpp sitzen und gebe mich meiner Frustration hin; ich könnte einfach hierbleiben, versteckt irgendwo im afrikanischen Busch an einem Berghang kauernd…. aber es hilft ja alles nichts, ich muss weiter. Außerdem gibt es am Haus Wasser – zu trinken und in Form eines Quellsees, in den ich mitsamt meiner Unterwäsche einfach hineinspringen werde. Der Gedanke daran motiviert definitiv.

Nach einer gefühlten Ewigkeit lichtet sich das Gestrüpp - Halleluja! Ich habe mich noch nie in meinem Leben so sehr darüber gefreut, aufrecht zu gehen. Eigentlich habe ich darüber in 30 Jahren auch noch nie nachgedacht. Da sieht man’s mal wieder.

Nach einer Weile aufrechten Ganges verkleinern sich die Pfade wieder zu Dikdik-Tunneln, jedenfalls in die Richtung, in die ich eigentlich gehen sollte. Ich habe so die Schnauze voll von Gestrüpp, ich will nicht mehr! Also beschließe ich, auf dem einen sauberen Pfad zu bleiben, der zwar nicht in Richtung Haus führt… aber irgendwann vielleicht ja doch… und so marschiere ich… und marschiere… ja, es ist ein Pfad, auf dem man aufrecht gehen kann, aber er führt mich immer weiter weg von meinem Ziel… und so beschließe ich letztlich doch, es noch einmal im Gestrüpp zu versuchen. Bleib einfach immer auf offener Grasfläche, bleib immer dort, wo du noch aufrecht gehen kannst und mehr als eine Richtung zur Auswahl hast…. Ha, es funktioniert nicht. Nach einer Stunde gebe ich auf und kehre zum Pfad zurück. Der Quellsee ist inzwischen zur fixen Idee geworden, und so gebe ich meinen Plan auf, marschiere den ganzen Pfad zurück bis zu der Stelle, wo ich vermeintlich am wenigsten Gestrüpp durchqueren muss um zum Haus zu gelangen – und stürze mich noch einmal in die Dikdik-Tunnel. Augen zu und durch. Denk an den See, denk an den Wasservorrat zu Hause. Natürlich komme ich irgendwann durch. 


Ich lande auf der anderen Seite des Zaunes, in einer Ansammlung von sehr, sehr hübschen, traditionellen Massai-Hütten in the making (später lerne ich, dass es eine Lodge im Massai-Stil wird - kein Wunder). Die Arbeiter haben offenbar Feierabend; ich beschließe, sie anzusprechen, bevor sie mich „entdecken“. Der junge Mann, der etwas erschöpft aussehend auf der Bank den Sonnenuntergang/Feierabend genießt, ist hilfsbereit und will mich sogar zum Tor im Zaun begleiten. Ich bedanke mich, ich glaube ich finde es schon selber ;) Ich weiß, ich bin extrem misstrauisch mit den Einheimischen; hin- und hergerissen zwischen kulturell antrainierter, arglos-herzlicher Fremdenfreundlichkeit und kühl-präventivem, abweisendem Selbstschutz. Dazu die Gedanken, die mir einflüstern „du verhältst dich wie ein Rassist – würdest du dich genauso verhalten, wenn er weiß wäre?“ – aber ganz ehrlich, lieber lebe ich mit solchen Gedanken als mit (weiteren) schmerzhaften Erfahrungen mit schwarzen Männern, und da ich als Deutsche tendenziell naiv und gutmütig bin (insbesondere hier in Afrika), ist das die beste Strategie; zumindest wenn ich alleine bin.

Der Liter himmlisches Wasser, den ich herunterkippe, sobald ich fünf Stunden nach Verlassen das Haus wieder betrete, und dann das anschließende Bad im Quellsee werde ich wohl nicht so schnell vergessen. Allein für die Wertschätzung solcher „trivialen“ Dinge hat sich der ganze Trip gelohnt!  


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