Donnerstag, 27. September 2018

Uganda III - Hakuna Matata


Ich sitze am Lagerfeuer, über mir in den Bäumen toben die Weavers**, die hier massenweise Nester haben. Ich fühle mich frisch und friedlich und wunderbar; ich hatte eine Dusche mit meiner Lieblings-afrikanischen Musik, die ich in Berlin nie anhören konnte, weil ich sofort weinen musste. Jetzt fühlt sie sich einfach nur in Mark und Bein wundervoll an und verwurzelt das erdverbundene, kraftvolle Gefühl in mir, das langsam wieder auflebt. Das Gefühl, privilegiert und stark und wundervoll und schön und all das zu sein; ich betone, Gefühl, nicht Gedanke. Wenn mich jemand bitten würde, das zu erklären oder zu begründen – ich weiß nicht, ob ich das könnte. Die weiche Abendbrise krault mir mein vollkommen ungebändigtes Lockenhaar, das ich zu einem chaotischen Dutt hochgesteckt habe (überall „Babyhaare“ um meine Schläfen, oh Gott, vollkommen stadtuntauglich!), die Zikaden* machen wieder ihren Höllenlärm, und ein smart aussehender schwarzer Kellner ist soeben zu mir ans Feuer gekommen, um zu fragen, wie es mir geht und ob er mir einen Drink bringen kann. Soeben ist mir das zweite unbekannte Insekt in meinen Ausschnitt geflogen; ah, wie ich das Gefühl vermisst habe, „irgendetwas Zerquetschtes“ aus meinem Bra zu fischen. 

*Zikaden sind an sich kleine, unscheinbare Insekten, deren Männchen an der Bauchseite ein Organ haben, das – aus bisher unerklärlichen Gründen – ein Geräusch erzeugen kann, das dem eines elektrischen Rasierapparats gleicht und Lautstärken bis zu 120 Dezibel erreicht. 120 Dezibel sind nahe an der Schmerzgrenze des menschlichen Ohres! Um ihr eigenes Gehör zu schützen, haben sie eine Art Membran, die bei Aktivierung des „Gesanges“ dafür sorgt, dass ihr Gehörgang verschlossen wird. Sie singen einerseits, um Weibchen anzuziehen, andererseits tun sie sich in Scharen zusammen, um Vögel abzuwehren! Kein Vogel riskiert sein Gehör, nur um eine Zikade zu fressen… es gibt unterschiedliche Zikadenarten, und alle singen auf einer anderen Frequenz, manche davon (God bless them) sind für Menschen gar nicht hörbar, bringen aber mit ihrem Krach zum Beispiel Hunde dazu, vor Schmerz zu jaulen. Ziemlich spannend, dafür, dass sie so klein sind.


**Über Weaver (Webervögel) gibt es so vieles zu erzählen; es gibt zahlreiche Unterarten; berühmt sind sie allerdings generell für ihre gewebten Nester (hence der Name 😉 ), die bei einigen Weberarten wie dieser hier wie kleine runde Bommel aus Zweigen und „Zeugs“ zahlreich an Bäumen hängen. Die Männchen müssen den Nestbau erst erlernen, deshalb sieht man oft viele „falsche“ Nester an einem Baum hängen, die keiner will; je mehr „richtige“ Nester er allerdings macht, desto bessere Chancen hat er, dass ein Weibchen sich sein Nest aussucht und dort einzieht. Die Dame wählt also, wie es sich gehört. Er darf dann rein und sie befruchten… wenn er richtig gut ist und viel Zeit hat, kann es sogar passieren, dass er mehrere Weibchen in mehreren Nestern zu „betreuen“ hat.

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Heute haben wir die Hakuna Matata Schule auf dem Gelände besucht. Ich werde langsam besser im Schulen-Besuchen, aber es ist trotzdem seltsam, das so zu erleben, mich so intensiv als „Weiße“ zu erfahren, ohne irgendetwas dafür zu tun. 
Nur weil ich weiß bin, erwarten vierzig kleine schwarze Kinder Geschenke von mir. Nur weil ich weiß bin, wird ein Lied für mich gesungen „Welcome Visitor, our school is hakuna matata, our motto is ,time wasted will never be regained‘, we are advanced class, den Rest verstehe ich leider nicht.“ Nur weil ich weiß bin, werde ich immer wieder von kleinen sehr süßen Kindern heimlich angefasst – was denken sie, dass ich das nicht merke? – vielleicht um zu testen, ob die Haut/Farbe echt ist, ich weiß es nicht? Nur weil ich weiß bin, wollen ALLE Kinder mir High Five/High Fist geben, und einige können gar nicht genug davon bekommen, und ich bin umringt von einer Schar schwarzer Kids in grellorange-neongelben Uniformen, grinsend mit leuchtend weißen Zähnen, fröhlich giggelnd und lachend, und ich kann auch nicht aufhören zu grinsen, es ist einfach zu süß und zu schön.


High Five die 124ste...
Bin ich deswegen rassistisch? Weil ich schwarze Kinder süß finde? Weil ich als Weiße eine schwarze Schule besuche und mich an der Reaktion erfreue? Bin ich rassistisch, weil ich weiß bin? Manchmal finde ich es sehr befreiend, wie Sean, Lizzys Freund, über diese Dinge redet. Er macht aus dem ganzen Thema einfach einen fetten Klumpen schwarzen Humor – schwarzen Humor? Weißen Humor? – und bringt mich damit oft zum Lachen. Nein, es war ein tolles Erlebnis, und ich habe gegrinst wie ein Honigkuchenpferd und es total genossen und heimlich Tränchen verdrückt, als die Kids ihre Schulhymne vorsangen… für uns vier weiße Besucher (Karlene, ich, der Direktor vom Zoo Melbourne und ein weiterer wichtiger Herr von Zoo Victoria / Rhino Fund, die der Schule dieses Jahr Whiteboards gespendet haben und jetzt fleißig Fotos für die Sponsoren machen). 

Karlene bringt den Kids bei, wie Seifenblasen funktionieren :)
Danach wasche ich übergründlich meine Hände… ist das rassistisch? ;) Quatsch. Spätestens nach einer Lebensmittelvergiftung und der Einsicht, dass man Hygiene in Afrika noch ernster nehmen muss, als ich es bisher getan habe (und das war nicht unernst), weiß ich, dass mein Körper an viele Bakterien, die hier ganz normal sind, doch (noch) nicht gewöhnt ist ;)

Speaking of Gewöhnung etc.: Ich bin jetzt voll auf Doxycycline, ein mildes Antimalaria-Antibiotikum. Mich haben schon zahlreiche Moskitos und Tsetse-Fliegen gestochen, dass ich letztlich doch froh bin, mich für Malariaprophylaxe entschieden zu haben. Obwohl ich so viele Horrorgeschichten gehört und erlebt habe von Gästen, die Malariatabletten nahmen, scheint mein Körper das Zeug gut zu verkraften. Klar, mir ist bewusst, dass ich meine Darmflora damit angreife und meiner Leber zu schaffen mache, und Lizzy sagt „this fucks up your skin“, aber dies ist nun mal ein High Risk Malariagebiet; Karlene hat mir erzählt, dass ihre letzte Praktikantin ihre Tabletten nur ein paarmal vergaß und bumms-Malaria! – insofern, besser isses. Nur damit man auch mal was Positives dazu liest und nicht immer nur die Negativberichte.

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Eine Woche geht unfassbar schnell vorüber, und schneller als erwartet und erhofft muss ich mich von Chris und Karlene wieder verabschieden. Sie haben mir eine wirklich tolle Woche bereitet und ganz davon zu schweigen, dass ich ihnen dankbar bin, habe ich das Gefühl, einem Teil Familie Auf Wiedersehen zu sagen... Obwohl wir alle nicht so recht wissen, was aus uns wird, sind wir uns sicher, dass wir uns wiedersehen werden... immerhin haben wir ein Talent, uns in Afrika zusammenzufinden - sei es im südlichsten, wildesten Namibia, im Busch Kwa-Zulu-Natals oder in Uganda ! 

Uganda II - Rhinos and stuff

Meine Zeit in der Lodge bzw. auf dem Gelände von Rhino Fund Uganda ist toll. Das Wetter wechselt zwischen heißer Sonne, Regenschauern und hoher Luftfeuchtigkeit, sodass man am Ende des Tages das Ergebnis von immer wieder kleben/schwitzen und trocknen deutlich riecht – und ich liebe es! Es ist zu gut. Fast wie eine kleine Rebellion gegen das Stadtleben, eine Rebellion gegen glattrasierte Haut, gestriegeltes Haar, hochmoderne nach Weichspüler duftende der Figur schmeichelnde Mode der aktuellen Saison, die nicesten Markenschuhe im „Labelmania“-Style, perfekt mani- und pedikürte Hände und Füße, spritzige die Persönlichkeit unterstreichende Accessoires, veganes Zitronen-Duschgel, Aloe-Vera-Bodylotion und alkoholfreies Frischedeo mit Mandarine-Vanille-Duft. Blabla. Und man kommt sich so authentisch, so schön vor, je mehr man sich zurechtmacht und sich „ausdrückt“. Ja, alles okay, alles gut – ich mag grade einfach nur so sein, wie ich bin, wie ich aussehe, rieche und mich fühle nach einem Tag im Busch, es ist so befreiend und roh und stark. Ja, ich dusche – mit rötlich angelaufener Seife unter einem kalten, dünnen Wasserstrahl. Ich glaube, das letzte Mal habe ich meinen Körper mit Seife geschrubbt, als meine Oma mich als kleines Kind gewaschen hat, kein Witz.


typische Szene auf dem Gelände: Buschbock und Warzenschweine friedlich am Grasen...
Wir fahren durch den Busch, im Auto und auf dem Motorrad (ohne Helm, zum ersten Mal in meinem Leben, was für ein Spaß!), sehen Buschböcke, Wasserböcke, riesige Warzenschweine (so große habe ich noch nie gesehen), Kühe und eine Menge spannender Vögel. Viele African Whoopoes sind hier, sehr hübsche kleine Vögel mit einem tollen Ruf, und Massen von Masked Weavern, die gelb in den Büschen leuchten. Anscheinend gibt es hier Rhinos und Shoebills, die beiden Hauptattraktionen, doch beide sehen wir nicht; richtig so, man sollte niemals die To-See-Liste eines Touris am ersten Tag komplett abhaken, selbst wenn man könnte. Das Essen auf der Lodge ist delikat, die Küche sehr professionell, die Köche und Kellner smart und freundlich. Trotzdem ist es wieder dasselbe Bild – wir Weiße sitzen am Tisch, fröhlich speisend, führen gebildete Gespräche und lassen uns von schwarzen Kellnern und Köchen bedienen. Ob man sich wohl jemals daran gewöhnt? Zur Verteidigung des Systems muss ich aber sagen, dass an vielen Tischen der Lodge zum Mittagessen auch schwarze Gäste sitzen, eigentlich sogar fast ausschließlich, während die hart arbeitende Gruppe Volontäre aus weißen Kids (18, 19 Jahre alt) besteht. Nach wie vor bin ich nur bedingt happy mit der Entwicklung des „Volontärtourismus“, aber das muss jeder Schulabgänger/gap year student für sich selbst entscheiden. Diese Kids (bzw. deren reiche Eltern) zahlen ein Höllengeld dafür, um den halben Tag Unkraut auszurupfen, den anderen halben Tag Pfosten festzuhämmern und dafür noch von diversen Sklaventreibern beschimpft zu werden, wenn sie (in den Augen der Manager/Besitzer/…) nicht hart genug arbeiten. But what do I know; none of my business; everyone must know for themselves. 


eines der (zur Zeit) 3 Baby-Nashörner in Uganda 
Ich erfreue mich am Fahren von Geländewagen über afrikanische Holperpfade, das habe ich zu lange nicht mehr gemacht; am Rhino-Sighting zu Fuß, das habe ich tatsächlich noch nie gemacht (nur auf Rädern…); an geführten Walks durch den Sumpf, bei denen ich auch den äußerst seltenen Schuhschnabel (Shoebill) zu sehen bekomme, für dessen Sichtung Touristen aus aller Welt anreisen; an der typischen Lodge-Atmosphäre mit Full Service, betüddelt werden, dunklen Mahagonitischen und viel Holz und Kerzenlicht; an dem ausgezeichneten dunklen südafrikanischen Wein (!) in Kombination mit Sternegucken und plätscherndem Pool; kurz gesagt, an dem reichen, genussvollen, privilegierten Leben von Mzungus (=Weißen. Hier gibt es sogar T-Shirts zu kaufen, auf denen steht „My name is not Mzungu“. Ich weiß nicht, ob ich das nicht ein wenig zu provokant finde, reicht doch, wenn ich das für mich weiß. Mein Name ist weder Mzungu noch Hello.)
Der berühmt-berüchtigte Schuhschnabel!

Rhino-Tracking zu Fuß 
Good life is back…

Uganda I - arrival

Ich sitze wieder am Flughafen, diesmal auf dem Weg nach Uganda. Ryanair hat soeben eine Stunde Verspätung angemeldet, und man kann niemals sicher sein, dass deren Definition von einer Stunde meiner entspricht.

Ich habe alle Brücken verbrannt. Es fühlt sich verrückt an, ich habe Schiss, und ich weiß gleichzeitig, dass es richtig ist. Im Lateinunterricht haben wir mal eine (wahre) Geschichte eines Krieges übersetzt, wo die feindliche Armee über den Wasserweg angriff und versuchte, das Land zu erobern. Der Armeeführer vor Ort beschloss, alle Schiffe der Feinde zu verbrennen, damit sie nicht fliehen könnten, wenn sie besiegt wurden. Vermutlich tat er ihnen damit einen Gefallen, denn sie kämpften so entschlossen, dass sie schließlich die ansässige Armee besiegten und das Land eroberten. Schiffe für die Flucht brauchten sie nicht mehr…

Ich weiß, was ich will. Und das tut gut. Das heißt nicht, dass alles, was ich in Berlin zurücklasse, schlecht ist. Vieles davon war wunderbar, vor allem viele Menschen, die ich dort kennenlernen durfte. Ich vertraue darauf, dass – wie immer – die wahren Freunde in Kontakt bleiben. You can not lose what is truly yours.

Ich will gar nicht so sehr darüber nachdenken, was ich alles vermissen werde. Jetzt bin ich hier. Habe ein Ziel. Habe Freiraum, bin sicher. Bin in Afrika, wo mein Herz sich gerade endlich wieder heiler und ganzer anfühlt. Habe die Chance und die Zeit und die Sicherheit, nachhaltig etwas für mich aufzubauen. Finanzielle Sicherheit zu schaffen, die ich dringend brauche. Und gleichzeitig dort zu sein, wo ich sein will. Einziges Manko: Ich muss auf die physische Anwesenheit vieler liebgewonnener Menschen verzichten.

Wie kann ich die letzten beiden Wochen zusammenfassen?

Eine Farm in Kenya hilft definitiv dabei, die Füße auf die Erde zurückzubekommen. Ich habe geholfen, einen Kater zu kastrieren (konnte aber beim blutigen Teil nicht hinsehen), acht kleine (männliche) Babyziegen, wir haben eine zu früh geborene Ziege mit der Flasche gefüttert, weil ihre Mama sie nicht unterstützt, und Lizzy hat eine todkranke Ziege ertränkt und verbrannt. (!) („Ich hätte ihm auch die Kehle durchschneiden können, aber mir war nicht nach Blut.“) Ich bewundere sie noch immer für diese Roughness, komme mir vor wie eine europäische Prinzessin auf der Erbse neben ihr. Ich weiß nicht, ob ich das könnte, ein Tier töten. Sie tut es dauernd, aber immer nur, wenn es notwendig ist; und sie ist Vegetarierin. Ich liebe und bewundere sie sehr, meine kleine starke Schwester. :)

Ich bin allmählich wieder angekommen; ich trage lange Hosen und meine Jeansjacke bei 25°C; meine Schultern und mein Nacken schälen sich, meine Beine sind voller Kratzer und Wunden; ich gewöhne mich langsam wieder daran, die einzige Weiße unter Schwarzen zu sein; mein Körper, mein Essverhalten, alles fühlt sich balancierter und schöner an; und ich fühle mich rauer, stärker, als könnte ich plötzlich mit viel weniger auskommen, als wären so viele Dinge, die vor drei Wochen noch wichtig waren, plötzlich vollkommen insignifikant. Ich bin wieder mehr Leopard und weniger Golden Retriever. 


Erwähnenswerte Momente der letzten Woche?

Massai-Dorf – Lizzy hat mich einmal mitgenommen, um eine ihrer Kinderarbeiterinnen (Stella) in der Schule anzumelden. (Auf der Farm gibt es Kinder, die Ziegen hüten müssen, um ihre Geschwister zu ernähren, statt zur Schule zu gehen. Dadurch wird ihnen natürlich die Zukunft verbaut bzw. die Möglichkeit, jemals einen gut bezahlten Job zu bekommen, aber sie kommen aus diesem Teufelskreis nicht raus; Schule ist zu teuer, aber Lizzy hat es sich zur Mission gemacht, alle Arbeiter unter 18 zur Schule zu senden). Weil ich gerade von meinem Morgensport kam und kurze Hosen anhatte, wollte ich nicht mit hineingehen und wartete im Auto. Während Lizzy mit Stella also ins Büro der Schulleiterin marschiert, sitze ich auf dem Beifahrersitz … als plötzlich zwei ganze Schulklassen von schwarzen Kids angelaufen kommen und sich neugierig direkt vor meiner Autotür versammeln! Sie stehen einfach da und starren mich alle an – ich komme mir stark vor wie ein Zootier – was für eine seltsame Situation :D Als ich beschließe, nicht nur zu lächeln, sondern „Hi“ zu sagen und zu winken, kreischen manche, lachen, und dann rennen sie in alle Richtungen davon. Man kennt diese Szene aus Filmen, von Fotos und Dokumentationen, aber es selbst zu erleben, ist – verrückt :D

Nur weil ich weiß bin, bin ich eine Kuriosität. Nur weil ich weiß bin, habe ich eine Putzfrau und eine Köchin. Nur weil ich weiß bin, könnte ich jedem Schwarzen beinahe problemlos sagen, was er oder sie tun soll. Nur weil ich weiß bin, geht automatisch jeder davon aus, dass ich reich bin und gebildet. Dass ich Geld ausgeben kann. Dass ich weiß, wie man mit Krankheiten umgeht – Menschen zeigen mir ihre geschwollenen Füße, eiternden Exzesse und geheimnisvollen Hautwüchse und erwarten, dass ich weiß, was zu tun ist. Ich habe bisher nicht viele Weiße in Kenya gesehen, nur am Flughafen, an Touristenspots und in typischen „white restaurants“, wo wir ein-, zweimal waren. Es ist ein extremer Sprung von einer Welt in eine andere. 

Die Affen machen mir auch Spaß. Es sind nur die kleinen Sykes Monkeys, die ums Haus herum leben; sie sind viel weniger aggressiv als Paviane (eigentlich überhaupt nicht aggressiv, sondern ängstlich, aber frech). Wenn man ein Fenster offen lässt (selbst kleine Öffnungen, von denen man nicht unbedingt erwartet, dass ein Affe durchpasst), sind sie im Haus. Und dann gibt es Chaos. Sie haben meine Zahnbürste angenagt und mit nach draußen genommen, meine Seife gefressen und die Aloe-Vera-Pads von meinem Rasierer (wie auch immer!). Als ich eines Tages im Garten meine Wäsche aufhänge (müsste ich eigentlich nicht, ich habe ja eine „Putzfrau“, aber ich will nicht dass sie das macht…), sehe ich, wie zwei Äffchen in mein Fenster einsteigen! Diese Kobolde!!! Ich husche ihnen nach, steige durchs Fenster in mein Zimmer und schließe es – sie sind bereits im Badezimmer, wo es (zur Zeit) kein Entkommen gibt….




***

Übrigens, willkommen in Afrika – eine dicke Lebensmittelvergiftung schließt in meiner zweiten Woche ihre Klauen um mich und beschert mir zwei anstrengende Nächte und einen anstrengenden Tag. Ich hatte fast vergessen, wie sich das anfühlt. Da ich am kommenden Tag nach Uganda fliege, beschließe ich, mein Verdauungssystem einfach komplett leer zu halten, bis ich angekommen bin. Ich hatte in Botswana schon mal einen langen Transfer mit einer Lebensmittelvergiftung, das war ziemlich beschissen – es macht keinen Spaß, in der langen, stickigen Schlange vor dem Einwanderungsschalter gefangen zu sein und schwindelig, schwitzend, zitternd eigentlich nur auf der Toilette sein zu wollen… meine neue Strategie scheint besser zu sein. Ich fühle mich nach zwei Tagen Fasten zwar etwas schwindelig, aber es ist nur der wohlvertraute Schwindel von Unterzuckerung; mein Magen grummelt, aber das ist das süße, geduldige Gefühl von Hunger, nicht die Androhung eines Vulkanausbruchs. Ich habe keine Energie, aber ich kann friedlich am Terminal sitzen, ohne verzweifelt nach Toilettenschildern suchen zu müssen. 

***

….Stunden bzw. Tage später: Ich bin in Uganda! Ich bin froh, dass ich heil und voll neuer Energie hier angekommen bin; fast, als wäre die Lebensmittelvergiftung notwendig gewesen, um irgendetwas aus meinem System zu schwemmen, was da nicht hingehört; irgendetwas in mir hat sich verändert, und natürlich ist es auch der Ort, der so magisch, emotional und tiefgründig ist – all das zusammen hat mich irgendwie umgestülpt, zurückgestülpt, und ich habe fast das Gefühl sagen zu können: Ich bin wieder da. Ich weiß, dass ich noch mehr da sein kann, aber so viel Sand (in meinem aufgewirbelten Inneren) hat sich schon lange nicht mehr gelegt. Ich fühle mich innerlich frisch und klar, als wüsste ich plötzlich wieder mehr, wer ich bin; als hätte ich plötzlich wieder mehr Grund, mir zu vertrauen; und als ich einmal versehentlich in den bunt bemalten afrikanischen Spiegel im Badezimmer schaue, fällt mir die Kinnlade runter – ich kenne diese Frau, habe sie nur lange nicht mehr gesehen. Sie trägt beigefarbene kurze Shorts, ein cremefarbenes Buschhemd, ihr Haar ist wild und lockig und golden, ihre Beine zerkratzt und voller Schrammen und Narben, ihre Füße sind rot vom Barfußlaufen auf Afrikas rotem Sand, ihr Gesicht ist sonnengebräunt und ein bisschen älter und faltiger als zuvor (und das sage ich ganz wertfrei), und ihre Augen strahlen in ihrem merkwürdigen grün-blau-grau-unergründlichen Farbton, lebendig und klar und tief. Nichts an ihr macht den Eindruck, als müsste es irgendwie sein, als hätte sie versucht, es irgendetwas anzupassen; nichts an ihr ist leer, oder aufgesetzt, oder fühlt sich an als müsste ich es beurteilen oder bewerten; alles ist einfach da, alles ist wie es ist, und ich kann mein Spiegelbild genauso liebevoll betrachten wie eine Antilope im Gestrüpp, die genauso ist wie sie ist, und jedes Härchen, jede Schramme, jeder Muskel, jedes Fettdepot ist wunderschön und genau so, wie es sein soll.
Crested Crane, der Nationalvogel Ugandas
Mein Flug nach Uganda ist okay, und trotz des klitzekleinen Flugzeugs, das viel schneller in Luftlöchern absinkt und den Magen hin und wieder auf einen Wellenritt schickt, verkraftet mein komplett leergeschwemmter nüchterner Körper alles prima. Chris holt mich am Flughafen ab, es gibt extra offene Zelte, wo die Wartenden Schatten suchen und sitzen können. Wir warten noch auf einen weiteren Besucher, den Chris mitnehmen soll, und so habe ich Gelegenheit, das Arrivals-Treiben zu beobachten und in Ruhe anzukommen. Der zweite Besucher trifft letztendlich viel zu spät, ohne Gepäck, bei uns ein – South African Airways is going down… 

Chris wollte eigentlich nicht so spät losfahren, weil es gefährlich ist, im Dunkeln unterwegs zu sein, aber jetzt haben wir keine andere Wahl. Die Fahrt ist toll und gibt einen wunderbaren ersten Eindruck vom Land, alles ist so unfassbar bunt, und chaotisch, und detailliert; der Straßenverkehr ein einziges Chaos, man weiß manchmal nicht, wo die Märkte anfangen und die Straße aufhört, weil Autos, Menschen, Hühner, Markthändler, Mofafahrer, Ziegen, Kinder in einem schwer definierbaren bunten Knäuel durcheinanderwuseln. Auf den Mofas sowie auf den offenen Ladeflächen von oft sehr provisorisch zusammengeflickten motorisierten Fahrzeugen (ich weiß nicht, ob man sie „Autos“ nennen sollte) wird einfach alles transportiert – Menschen, Bananen, Ananas, Wurzeln, Hühner, Ziegen, Frauen, Kinder, Container, Werkzeug, Möbel,….


 Es ist so spannend einfach nur Details aufzunehmen, wie auf einem wirklich extrem kreativen Wimmelbild (falls das jemand noch kennt….). Kleine Momentaufnahmen sind herrlich – die Frau mit dem Baby auf den Rücken gebunden, die ein Feuer direkt neben der Straße macht (keine Ausnahme), auf dem sie undefinierbare Wurzeln grillt und direkt an Autofahrer verkauft, eine Ziege daneben, angebunden, die belästigt wird von einem freilaufenden Ziegenbock; zwei Mofafahrer, die ineinander gefahren sind und deren Maschinen sich verkeilt haben, rütteln an ihren Maschinen und versuchen sie auseinanderzuzerren – sie erinnern mich an Kuduböcke, deren spiralförmige Hörner sich im Hornkampf verkeilt haben; 

Fahrräder mit riesigen Portionen grüner Bananenstauden auf dem Gepäckträger, die sorgfältig gestapelt wurden, damit man sie ausbalancieren kann; ein klitzekleiner Transporter mit offener Ladefläche, auf der Kartons, Ananas, Kinder und ein Sarg hin und her schwanken; Kühe mit riesigen Hörnern, die entspannt zwischen den Fahrzeugen umhertrotten…. Es ist großartig! „You have to laugh, otherwise you‘ll cry” (quoting Chris) trifft es ganz gut. Das ist übrigens grundsätzlich für Afrika keine verkehrte Grundeinstellung.

Asante sana, smash banana, wewe nugu mimi hapana – herzlichen Dank, zermatsche Banane, du bist ein Affe und ich nicht. (Raffiki aus dem König der Löwen singt Suahili/Englisch – ich jetzt auch, fließend sogar. :P)


Hello Vervet Monkey! Hier in Uganda sind sie wieder mal überall...
Nicht bei Nacht zu fahren ist eine gute Empfehlung, wie wir feststellen, als Chris die letzte halbe Stunde im Dunkeln kämpft. Es gibt keine weißen Linien, keine Leitplanke, keine Reflektoren, nur Fahrzeuge, die dir mit Fernlicht entgegenbrettern, das dich besonders gut blendet, weil es durch ganz feinen Bodennebel verstärkt wird; die Straßen sind sehr schmal, und auf beiden Straßenseiten siehst du immer wieder vollkommen unbeleuchtete (schwarze) Fußgänger oder Radfahrer in allerletzter Sekunde – es ist so einfach, so erschreckend einfach, hier jemanden versehentlich zu töten. Wir kommen aber sicher an.

Nach zweieinhalb Tagen Fasten esse ich abends in Uganda in der Lodge zum ersten Mal wieder eine richtige Mahlzeit (nach einem Apfel zum Fastenbrechen) – gekochtes Gemüse und Reis. Es ist himmlisch und genau das, was mein Körper braucht. Es fühlt sich perfekt an, ich hatte Hunger wie ein Tier, und ich weiß es so sehr zu schätzen, wieder zu essen… zum Nachtisch serviert die Küche ein Milktarte (typisch südafrikanisch, wie ich lerne), das so unglaublich lecker ist, dass ich es meinem Magen einfach mal zutraue. Ich werde es nicht bereuen, aber mich immer daran erinnern, wie sehr ich dieses kleine Stückchen „treat“ genossen habe.

In meiner ersten Nacht in Uganda habe ich eine leichte Mückenphobie, obwohl eigentlich nichts passieren sollte – Karlene, meine bewährte und liebste Krankenschwester (die meinen verbrannten Fuß in Namibia bis fast zur Narbenfreiheit versorgt hat), hat mich mit Malariatabletten gefüttert und ich schlafe vor einem Ventilator. An dessen lautes Surren und den Wind muss ich mich erst noch gewöhnen; ich wache ein paarmal nachts davon auf. Aber er hält tatsächlich Moskitos fern; das weiß ich in einem Malariahochgebiet durchaus zu schätzen.

Außer dem Surren des Ventilators höre ich nur den geliebten Chor von Grillen, Fröschen und dem gelegentlichen altvertrauten Ruf einer Nightjar (googled the German name: Nachtschwalbe, haha). Es ist wie warmer Honig, der durch meine Seele fließt. Und meine Seele saugt all das Gold durstig auf und fängt allmählich an, immer heller zu strahlen.

Locals


Heute verabschieden wir Anya, sie fliegt zurück nach Äthiopien – schade, ich mag sie gern und das war ein wirklich kurzer Besuch… wir haben Matthew mit dabei, der jetzt unter Lizzy arbeitet, aber schon seit über 20 Jahren auf der Farm beschäftigt ist. Er hat noch erlebt, wie alles voller Elefanten, Giraffen und Büffel war – heute alle gewildert. Dafür war er noch nie am Internationalen Flughafen und freut sich wie verrückt. Das ist schön zu sehen und zu fühlen; ich liebe und vermisse dieses Gefühl, aus dem Busch zu kommen und alles ist plötzlich speziell und besonders für einen. 

Nachdem wir Anya verabschiedet haben, gehen wir noch einkaufen – bzw. Matthew geht einkaufen, deshalb haben wir ihn mit – und ich stehe in der heißen afrikanischen Sonne vor staubigen, kleinen Shops, während Matthew mit wunderbarer Sorgfalt und Aufrichtigkeit den allerbesten Hammer im besten Handwerkerladen des Dorfes auswählt. 

Am Abend besuchen wir zwei Freunde Lizzys in der benachbarten Massai Community: Jackie, die traditionellen Perlenschmuck herstellt, und ihren Ehemann. Sie haben fünf Kinder, drei adoptiert, weil sie besser für die Kinder sorgen können als deren Eltern. (Sie leben in einer 10qm Wellblechhütte im Nirgendwo, aber sie können es sich leisten, zwei der drei Kinder zur Schule und zur Universität zu schicken). Wir werden sehr gastfreundlich empfangen und versorgt, natürlich auch, weil die Massai sich Hilfe von mzungi, den Weißen, erhoffen. Es ist ein schwieriger Balanceakt – einerseits sind die Dinge, die sie dringend brauchen (eine Wasserpumpe, damit die Frauen das Wasser nicht mehrmals täglich 1 km durch die Savanne schleppen müssen; Schulbücher und allgemein Kosten der Schule; etc. etc.) für uns vergleichsweise extrem billig, sodass es kein Problem wäre, ihnen dieses Geld zu geben – aber damit ist langfristig eben niemandem geholfen. Alles muss nachhaltig geschehen, muss so aufgebaut werden, dass die Menschen selbst in der Lage sind, sich zu helfen und Geld zu verdienen oder ihre Probleme in Angriff zu nehmen. Jackie serviert uns Erbsen und Kraut mit Weizenfladen, und mein Magen will jetzt schon überhaupt nichts mehr von Weizen wissen, aber sie bestehen darauf, dass ich sie probiere. Ja, sie sind lecker, natürlich; nach dem Besuch habe ich heftige Koliken. Die hatte ich die letzten Tage schon immer dann, wenn ich Weizenfladen aß, ja, sie sind extrem lecker, aber ich muss mich wirklich zurückhalten, meinem Verdauungstrakt zuliebe.

Lizzy will, dass sich etwas tut in der Community – ohne eine gesunde und funktionierende Community ist ihre Arbeit wie Hausbau auf Treibsand, wird die Wiedereinführung von Wildtieren niemals nachhaltig sein. Menschen, die hungern und leiden und dringend Geld benötigen, sind (zum Beispiel) sehr leicht zum Wildern oder zur Unterstützung von Wilderern zu bewegen und sind wenig loyal, wenn es um den Schutz und Erhalt dessen geht, was sie hier aufbauen möchte. Sie hat ehrgeizige, hoch gesteckte Ziele, und sie braucht extrem viel inneres Licht, um dorthin zu marschieren. Ich wünsche ihr von Herzen, dass das, was sie vorhat, klappt oder zumindest nicht dafür sorgen wird, dass sie eines Tages desillusioniert und enttäuscht in die Menschheit die Flinte ins Korn wirft. Ich könnte die Arbeit, die sie hier macht, nicht leisten – ein bisschen kommt sie mir vor wie eine Mini-Ausgabe von Prinzessin Diana, die komplett liebevoll und offen in eine so fremde Kultur taucht, alle streichelt, allen gibt, was sie kann, und von Herzen versucht, die Menschen voranzubringen. 

Für mich ist das alles noch ein Kulturschock – ich hatte zwar Kontakt mit „Einheimischen“ in Botswana und Südafrika, aber immer auf einer westlich kultivierten, sicheren Basis. Die Schwarzen, mit denen ich bisher zu tun hatte, waren in der Regel angestellt, versorgt, „westernized“ durch den Tourismus, für den sie arbeiteten, und ja, natürlich gab es auch dort Probleme, Kulturclashs, etc., aber es war mir nie so bewusst wie jetzt in dieser Massai-Community.
Die Schule in der Community



Lizzy nimmt mich am Folgetag mit zu einem Frauentreffen, das sie organisiert hat – es dürfen nur Frauen aus der Community kommen, und sie hat eine amerikanische Ärztin (Gynäkologin) eingeladen, die im Nachbardorf Kagashi seit 2014 missioniert, die mit den Frauen über alle möglichen Frauengesundheitsthemen spricht – auch die Mädchen der Schule sind da, und sie erhalten eine Extra-Lektion zum Thema Menstruation, dass es das gibt, dass es normal und gesund ist, wie sie sich vorbereiten können, was sie machen können, wenn sie Schmerzen haben (Medizin nehmen natürlich) und so weiter. Ihnen wird auch eingeschärft, dass sie niemandem erlauben sollen, etwas mit ihrem Körper zu machen, das ihnen nicht gefällt – und dass sie sich für ihren Ehemann aufsparen sollen, nach der Universität; es gibt nicht entweder Universität oder Familie, sondern man könne erst das eine haben, dann das andere, so sind die Frauen sozial abgesichert(er).
Die (älteren) Schulmädchen während der "Frauenthemen"-Aufklärung
 Generell machen sie Vorschläge zur Hygiene – dass man jemanden ansteckt, wenn man ihn anniest oder erst in die Hand niest und dann den anderen berührt; sie üben „richtiges Niesen“, sprechen über Husten, etc. Mit den erwachsenen Frauen wird über Verhütung diskutiert, über den Zyklus und Fruchtbarkeit, wie lange sie warten sollten mit dem nächsten Baby, wie sie verschiedene gängige Kinderkrankheiten Afrikas erkennen und was sie ohne großen Geldeinsatz für die Kinder tun können (zum Beispiel mit Salz gurgeln, den Kindern bei bestimmten Krankheitsbildern mehr Bohnen, Erdnüsse und Fleisch geben (Proteinmangel)), wie sie sich selbst helfen können bei Scheidenpilz, Hustenerkrankungen, etc… alles Dinge, die für mich ganz und gar selbstverständlich sind… 

Lizzy ruft schließlich mich „auf die Bühne“, um ein paar Übungen zu zeigen, die gut sind bei Rückenschmerzen, Menstruationsschmerzen und sogar Wehen – die kleinsten Bewegungen (Hüfte vor- und zurückkippen im Sitzen, Kuh-Katze aus dem Yoga, strecken, atmen) ernten heftiges Gelächter. Etwas, das für uns Westliche so selbstverständlich ist, macht einen so seltsamen Eindruck auf diese Frauen! Ich bezweifle, dass sie es ausprobieren werden, aber hey, why not. Am Ende der Versammlung steht die Stammesälteste wieder auf (sie sprach zu Beginn schon einmal; sie scheint diejenige zu sein, die für alle spricht, und sie ist prachtvoll dekoriert mit traditionellem Perlenschmuck und auffallendem orangefarbenem Gewand. Mit stets würdevoller, ernster Mimik strahlt sie absolute Autorität aus. Sie bedankt sich bei den Frauen für diese Lektionen, die sie überrascht hätten, aber die sinnvoll seien, weil viele der angesprochenen Probleme wirklich existierten – und dann wendet sie sich an die Frauen und erklärt ihnen, dass es wichtig sei, auf sich acht zu geben, und die Ratschläge zu befolgen, etc. 
Womens' Meeting (links die alte Massai-Mamma - mit den traditionell durchhängenden Ohrlappen)
Auf jeden Fall eine ziemlich krasse Erfahrung für mich, und ein Kulturschock ohnegleichen. Ich habe noch nicht das Gefühl, wirklich angekommen zu sein, habe das Gefühl, Zuschauer zu sein statt Protagonist, und das ist okay. Ich bleibe einfach friedlich, mit beiden Beinen auf afrikanischem Boden, und lasse den aufgewirbelten Sand weiter sinken….

Into the Bushes

Heute habe ich einen sturmfreien Tag – während Lizzy, Anya und Sean in die Stadt nach Nairobi fahren, bleibe ich lieber hier und genieße die Natur. Stadt hatte ich ehrlich gesagt mehr als genug in letzter Zeit, und Käseverkostungen, Kletterhallen und Shoppingmalls haben keine so hohe Anziehungskraft auf mich wie Vögel, Bäume und Ruhe. Also mache ich mir einen „wilden“ Tag – ein paar Stretches, gemütliches Frühstück draußen in der Sonne – scanne die umliegenden Berge und suche mir einen aus, den ich bezwingen möchte. Dann packe ich meinen Rucksack (eine Flasche Wasser, Taschenmesser, Pullover, falls ich nicht vor Nachteinbruch zurückkomme, Streichhölzer, Handy) und marschiere los. In Buschfarben und Barfußschuhen. Es ist ein schönes Gefühl, Sand, Felsen, Unterholz, Äste, immer wieder auch Äste von Akazien – ich hatte schon fast vergessen, wie es ist, sich ständig Dornen aus der Haut zu ziehen. Da ich den Berg nicht kenne und auch nicht weiß, ob es überhaupt Pfade gibt, die nach oben führen, nehme ich zunächst den direkten Weg – und der führt durch den das Gelände umgebenden Elektrozaun. Ich brauche bestimmt zehn Minuten, um den Mut für einen Test zusammenzunehmen – die Alternative wäre ein endloser Umweg gewesen. Zuerst lausche ich in den Draht, dann tippe ich ihn mit dem Fuß an, darauf gefasst, dass gleich eine heftige Ladung Strom durch meinen Unterkörper schießt – aber ich habe Glück. Nach weiteren Tippversuchen mit dem Fuß und schließlich mit der Hand klettere ich durch eine der Maschen hindurch und mache mich auf in die Büsche. Da ich keinen Pfad finde, folge ich vereinzelten Antilopenpfaden durchs Gestrüpp – die absolut häufigsten Antilopen hier sind die klitzekleinen Dikdiks, nicht viel größer als Feldhasen, und dementsprechend sehen auch ihre Pfade aus. Sie eignen sich eigentlich nicht für ein Säugetier, das größer ist als ein Lamm. Es geht bergauf, es ist steil, rutschig, und einfach nur dickes, dorniges Gestrüpp, das mich zerkratzt, Blätter und Staub auf mich regnen lässt und mir akrobatische Verrenkungen abverlangt. Ich keuche und puste, das ist definitiv eine andere Art des Extrem“sports“, allerdings bin ich mir unsicher, ob mir der Kratzfaktor so viel Spaß macht. 

Man denkt plötzlich so anders, trifft ganz intuitive, moment-orientierte Entscheidungen – wenn ich abrutsche, muss ich mein Gewicht nach vorn werfen, auch wenn das bedeutet, mein Gesicht frontal in dornige, kratzende Äste zu schlagen – ich trainiere mich mental für einen solchen Fall, damit ich bereit bin, das kleinere Übel zu wählen statt dem Instinkt zu folgen, kratzigen Ästen im Gesicht auszuweichen und dann aufgrund der Gewichtsverlagerung womöglich nach hinten in die Tiefe zu stürzen. 

Nach einer guten Viertelstunde Extremkraxeln treffe ich auf einen Pfad – menschengemacht, ganz offensichtlich, und freigeschnitten – und freue mich sehr, endlich wieder aufrecht gehen zu können. Gleichzeitig bin ich aber auch vorsichtig – es gibt auf dem Gelände viele sogenannte „Snares“, illegale Schnapp-/Drahtfallen, die von Wilderern ausgelegt wurden, und es werden nicht nur Tiere gewildert, sondern auch Bäume (für Kohle, die dann verkauft wird). Sprich, meine Chancen, auf jemanden zu treffen, der nicht gefunden werden möchte, sind jedenfalls nicht bei Null… ich schleiche mit meinen Barfußschuhen höher und höher, aber es scheint niemand hier zu sein. Es geht immer weiter nach oben auf dem Pfad; meine Quads brennen, und ich klettere mich selbst außer Atem. Es ist inzwischen heiß, und ich habe schon über die Hälfte des Wassers ausgetrunken, das ich mir mitgebracht hatte. Auch das habe ich vergessen – wie viel Wasser man braucht, wenn man sich in der afrikanischen Sonne körperlich betätigt! Ich bin noch nicht mal halb oben und muss bereits meinen Wasserverbrauch rationalisieren. Jetzt nur noch ein Schluck pro Stopp. Der Pfad führt mich höher und höher, an weidenden Rindern vorbei – der Rinderhirte versteckt sich vor mir, was mir nicht unrecht ist – und es wird immer gebirgiger. Nach einer Zeit wird die Vegetation dünner, wofür ich aufrichtig dankbar bin. Die Haut an meinen Armen, Beinen und Händen blutet schon aus zahlreichen kleinen Kratzern und den Einstichstellen von Dornen – es ist zu schön, nur noch durch halbhohes Gras zu streunen, auch wenn die scharfen Grassamen die gereizte Haut meiner Beine ebenfalls herausfordern. Der letzte Abschnitt bis hoch zum „Gipfel“ ist noch einmal extrem herausfordernd. Ich klettere-rutsche-krabbele einen extrem rutschigen Steilhang aus lockeren Schiefersteinen nach oben – man soll sich ja eigentlich nicht umdrehen, ich tu es aber doch. Es ist seltsam, dieser Gedanke, du könntest jetzt abrutschen und im schlechtesten Fall sterben, gepaart mit dem kitzeligen Gefühl, dass das hier zwar höchste Konzentration erfordert, aber mir nichts passieren wird. 


Natürlich komme ich sicher oben an. Schweißnass und keuchend genieße ich die Aussicht und das berauschende Gefühl. So this is Great Rift Valley. Man sieht nach vorn so weit über die graubeigen, staubigen Flächen, die ganz weit hinten durch eine sanfte Bergkette begrenzt wird. Ich atme durch und trinke einen Schluck Wasser mit dem Gefühl, dass ich den wirklich verdient habe. Ein schönes Gefühl, das ich lange nicht mehr hatte… wann denkt man schon mal dankbar darüber nach, Wasser trinken zu dürfen – normalerweise sorgt doch jeder immer nur mehr oder weniger griesgrämig dafür, auf die empfohlenen 2-3 Liter pro Tag zu kommen.

Auf der Ebene hier grasen Ziegen, leise bimmelnd mit ihren Glöckchen, und ich fühle mich fast wie „zu Hause“ in den Alpen. Die beiden Ziegenhirten starten einen kurzen gut koordinierten Versuch auf mich (als ich dem einen entkomme, ruft er den anderen in Swahili dazu, der dann um die Ecke läuft um mich auf meinem „Fluchtweg“ noch einmal abzufangen), aber sie lassen sich relativ problemlos abwimmeln – das wäre in Südafrika vielleicht anders ausgegangen. Hier bemerkt man schon deutliche Unterschiede zwischen den beiden Ländern.

Über den Rückweg will ich eigentlich gar nicht nachdenken. Der erste Teil war angenehm, wie ein alpiner Abstieg eben, über Felsen und Sand und so weiter – der letzte Teil gestaltet sich extrem nervtötend. Ich verliere wieder einmal meinen Pfad und finde mich in den nervigen Dikdik-Tunneln wieder, und diesmal folge ich ihnen eine gefühlte Ewigkeit, ohne Aussicht, jemals wieder herauszukommen. Irgendwann bin ich so tief drin, dass es nicht einmal mehr Sinn machen würde, umzudrehen und den Hang wieder hinaufzukraxeln – jetzt muss ich wohl durch. Spaß macht es absolut keinen. Immer wieder schrabbele ich auf Po, Ellenbogen und Füßen durch die kratzigen Tunnel, weil es nicht einmal im gebückten Zustand zu schaffen ist. Ich höre auf zu zählen, wie oft mir ein scharfer Zweig ins Gesicht oder gegen den Schenkel klatscht wie eine Reitgerte, wie oft ich mir die Haut aufreiße oder mir Dornen in die Hände stoße bei dem Versuch, mich abzustützen. Ständig muss ich mich gewaltsam durch Gestrüpp zwängen, das zur Strafe tonnenweise alte Blätter, Zweigstückchen, Staub und Insekten auf mich herabregnen lässt. Diese Mischung klebt hervorragend auf schweißfeuchter Haut, insbesondere im Genick, auf der Kopfhaut und in der Unterwäsche, und sie sorgt für einen Juckreiz der Extraklasse. Zwei- oder dreimal bleibe ich einfach mitten im Gestrüpp sitzen und gebe mich meiner Frustration hin; ich könnte einfach hierbleiben, versteckt irgendwo im afrikanischen Busch an einem Berghang kauernd…. aber es hilft ja alles nichts, ich muss weiter. Außerdem gibt es am Haus Wasser – zu trinken und in Form eines Quellsees, in den ich mitsamt meiner Unterwäsche einfach hineinspringen werde. Der Gedanke daran motiviert definitiv.

Nach einer gefühlten Ewigkeit lichtet sich das Gestrüpp - Halleluja! Ich habe mich noch nie in meinem Leben so sehr darüber gefreut, aufrecht zu gehen. Eigentlich habe ich darüber in 30 Jahren auch noch nie nachgedacht. Da sieht man’s mal wieder.

Nach einer Weile aufrechten Ganges verkleinern sich die Pfade wieder zu Dikdik-Tunneln, jedenfalls in die Richtung, in die ich eigentlich gehen sollte. Ich habe so die Schnauze voll von Gestrüpp, ich will nicht mehr! Also beschließe ich, auf dem einen sauberen Pfad zu bleiben, der zwar nicht in Richtung Haus führt… aber irgendwann vielleicht ja doch… und so marschiere ich… und marschiere… ja, es ist ein Pfad, auf dem man aufrecht gehen kann, aber er führt mich immer weiter weg von meinem Ziel… und so beschließe ich letztlich doch, es noch einmal im Gestrüpp zu versuchen. Bleib einfach immer auf offener Grasfläche, bleib immer dort, wo du noch aufrecht gehen kannst und mehr als eine Richtung zur Auswahl hast…. Ha, es funktioniert nicht. Nach einer Stunde gebe ich auf und kehre zum Pfad zurück. Der Quellsee ist inzwischen zur fixen Idee geworden, und so gebe ich meinen Plan auf, marschiere den ganzen Pfad zurück bis zu der Stelle, wo ich vermeintlich am wenigsten Gestrüpp durchqueren muss um zum Haus zu gelangen – und stürze mich noch einmal in die Dikdik-Tunnel. Augen zu und durch. Denk an den See, denk an den Wasservorrat zu Hause. Natürlich komme ich irgendwann durch. 


Ich lande auf der anderen Seite des Zaunes, in einer Ansammlung von sehr, sehr hübschen, traditionellen Massai-Hütten in the making (später lerne ich, dass es eine Lodge im Massai-Stil wird - kein Wunder). Die Arbeiter haben offenbar Feierabend; ich beschließe, sie anzusprechen, bevor sie mich „entdecken“. Der junge Mann, der etwas erschöpft aussehend auf der Bank den Sonnenuntergang/Feierabend genießt, ist hilfsbereit und will mich sogar zum Tor im Zaun begleiten. Ich bedanke mich, ich glaube ich finde es schon selber ;) Ich weiß, ich bin extrem misstrauisch mit den Einheimischen; hin- und hergerissen zwischen kulturell antrainierter, arglos-herzlicher Fremdenfreundlichkeit und kühl-präventivem, abweisendem Selbstschutz. Dazu die Gedanken, die mir einflüstern „du verhältst dich wie ein Rassist – würdest du dich genauso verhalten, wenn er weiß wäre?“ – aber ganz ehrlich, lieber lebe ich mit solchen Gedanken als mit (weiteren) schmerzhaften Erfahrungen mit schwarzen Männern, und da ich als Deutsche tendenziell naiv und gutmütig bin (insbesondere hier in Afrika), ist das die beste Strategie; zumindest wenn ich alleine bin.

Der Liter himmlisches Wasser, den ich herunterkippe, sobald ich fünf Stunden nach Verlassen das Haus wieder betrete, und dann das anschließende Bad im Quellsee werde ich wohl nicht so schnell vergessen. Allein für die Wertschätzung solcher „trivialen“ Dinge hat sich der ganze Trip gelohnt!  


Montag, 24. September 2018

Essentials


Ich liege warm eingepackt in meinem Bett, der Wind heult ums Haus und rauscht in den Bäumen, und ich fühle mich wunderbar geborgen. Es hört sich wild an; das ist kein zahmer deutscher Wind, das sind afrikanische Böen, und sie heulen nicht um zehn Häuserblöcke, sondern durch Akazien und Buschgestrüpp. Ich merke, wie die Stadt langsam von mir abfällt… und der afrikanische Spirit langsam, aber sicher anfängt wieder durch meine Adern zu fließen, meinen Körper zu beleben, und große Teile meines Kopfes stillzulegen. Ist doch alles nicht so wichtig – womit habe ich mich eigentlich beschäftigt die letzten Monate? So viel Banales, so viel Unwichtiges, was nur Sorgen macht, aber eigentlich vollkommen inessenziell ist. Das hier, das ist essenziell: Das Heulen des Windes, der Sternenhimmel – oh Gott, der Sternenhimmel, ich habe ihn so unfassbar doll vermisst, ich stand über eine halbe Stunde nur im Vorgarten und bekam ein steifes Genick und ein warmes Herz – der Staub im Haar, die unvergleichliche afrikanische Sonne auf der Haut, Kratzer auf der Haut. Ja, natürlich habe ich bereits Kratzer auf der Haut. Felsen. Der süßeste, belangloseste Schmerz, den es gibt! Und Staub ist das beste Wundheilmittel. Die Grillen, die wild, rhythmisch, unaufhaltsam in die Nacht zirpen. Das immerzu goldene Licht, das all die beigen, braunen und grünen Farbtöne in warme Stimmung taucht, das Haar im Wind und Haut im Sonnenuntergang wie Kupfer und Honig strahlen lässt, das im Gehirn die Produktion von Glücks- und Schlafhormonen ankurbelt, das unser inneres Strahlen auf schönste Art und Weise im Außen reflektiert, damit wir es nicht vergessen.

Breaking Point

Es ist ein schönes Gefühl, wieder am Terminal zu sitzen, mit dem Laptop auf dem Schoß, den goldenen Duft von Flughafenkaffee in der Nase, umgeben von friedlichen, vergleichsweise entspannten Menschen, minding their own business. Wenn ich Leuten erzähle, dass ich fast einen Tag lang unterwegs sein werde, bis ich in Afrika lande – Berlin, Paris, Amsterdam, Nairobi – haben sie meistens Mitleid mit mir. Oh Gott, der lange Transit. Flughafen, ach wie schrecklich. 10 Stunden Fliegen, du Arme. Ja, ich Arme. Die Wahrheit ist – ich mag Flughäfen. Ich mag Fliegen. Reisen, unterwegs sein von Deutschland nach weit-weg (oder zurück) ist eine ganz spezielle Zone für mich, ein anderer „Space“, kombiniert auch mit anderem Mindset – es gibt nichts, was ich hier tun kann, oder muss; ich „stecke fest“ in einer neutralen Zone ohne Stress, ohne Zeit (meistens jedenfalls), und meine einzige Aufgabe ist es, in ein Flugzeug zu steigen und später wieder heraus. Ich merke jetzt schon, wie etwas in mir sackt, als wäre ich eine Tasse voller Wasser und Sand, die jemand ständig durchgerührt hat, und die jetzt zum ersten Mal zur Ruhe kommt. Der Sand sinkt langsam zu Boden. 


Uns geht es gut, wir sind gebettet in den weichen Federn des Wohlstands; alles, was diese Flughäfen für uns bieten, ist Zeitvertreib – Luxus, Futter, Genuss, Entertainment, einfach nur um unser Dasein, unsere Zeit angenehm und kurz zu machen. Um davon abzulenken, dass wir „warten müssen“. 98% der Augen hier flimmern über Bildschirme, Smartphone, Tablet, Laptop – ein einziger Mensch liest ein Buch, und jemand schaut aus dem Fenster. Vielleicht lesen auch mehrere Bücher – ebooks – auf ihrem Screen. Jedenfalls ist es ruhig deswegen, ich fühle mich friedlich und sicher. 

Berlin hat damit begonnen, mich kaputtzumachen, auf seine leise, charmante Art und Weise. Wie es eben so ist im Leben – man gewöhnt sich nur immerzu an alles, und wenn man lange in dem Glas mit aufgewirbeltem Sand schwimmt, merkt man nicht mehr, dass das Wasser trüb ist und man die ganze Zeit in einem Strudel im Kreis wirbelt. Die kurze Pause – raus aus der Stadt, aus dem Fitnessbusiness, in die schonungslos natürliche Natur der Schwäbischen Alb – hat mich herausgerissen, mir gezeigt, wie ich eigentlich sein könnte, als wären die äußeren Schichten von klebrigem, rußigem Schmutz plötzlich aufgeweicht, als wäre ich plötzlich wieder mehr ich, wild und frei und lebendig, als hätte man die Löwin aus ihrem Käfig im Zoo für eine Woche in die Savanne gesetzt, nur damit sie mal gucken kann. Als sie wieder in den Käfig zurücksollte, flippte sie aus. Ich kann sie verstehen. Ich versuche auf sie einzugehen. Zur Zeit kein Kaffee mehr, den ich nur noch benutzt habe, um alles zu schaffen, was ich glaubte schaffen zu müssen – eine Woche lang hat mich der Entzug vollkommen niedergeballert, ich wollte nur schlafen, meine Stimmung war gedrückt, mein Kopf wollte platzen. Als könnte ich mein Leben nur ertragen, wenn ich sogenannte „Genussmittel“ genieße – und benutze. Natürlich schmeckt mir Kaffee – oh Gott, ich LIEBE Kaffee – aber er macht eben doch etwas mit mir, wie mit den meisten Menschen, die immer nur so tun, als wäre das nichts, als wären sie ohne Kaffee genau dieselben Menschen. Ich schätze es, wenn Leute wenigstens zugeben, dass sie „ohne Kaffee nicht könnten“, dass sie „wahrscheinlich eine Woche nur schlafen würden“ oder „Kopfschmerzen wie ein Tier“ bekommen. Das ist die Wahrheit. Kaffee ist die sozial anerkannteste Droge der westlichen Gesellschaft, unsere Leistungsdroge, das Benzin im Konsumsystem, das von einer breiten Masse kleiner, schuftender Menschen lebt, die sich bis an (oder über) die Grenze rackern, um sich dann mittels Konsum abzulenken. Kaffee schiebt die Grenze ein wenig nach oben – duftend, und wohlschmeckend, und warm und mit dem Charme von Entspannung, Genuss und Gemütlichkeit – aber er sorgt eben doch dafür, dass wir weiter gehen, als wir ohne Drogen gehen würden. Kaffee hilft uns dabei, unseren eigenen Körper (und oft auch unsere eigene Seele) zu benutzen, und oft genug zu missbrauchen, um mehr zu leisten; in welcher Form auch immer. Warum ist das legal, während andere leistungssteigernde Drogen verboten sind? Die Frage ist wie immer schnell und platt beantwortet: Geld. Natürlich.

Ich verteufele Geld nicht, ganz und gar nicht. Aber es taucht doch immer wieder als Antwort auf die Frage auf, warum etwas, das eigentlich nicht richtig ist, so ist, wie es ist.

„Hallo Schönheit. Awash with anticipation. Ich freue mich sehr auf dich und bin friedlich dankbar. Hab einen guten Flug. Wenn du in Kenya landest, atme einfach nur und trag deine afrikanische Schutzblase. In dem Moment, in dem du auf afrikanischer Erde landest, erinnere dich daran, dass du die Erdfrau in dir wiedererwecken kannst und lass dir von niemandem Probleme machen. Bleib friedlich.“

Der Sand sinkt weiter zu Boden, er wird eine Weile brauchen, weil er so lange so heftig durchgerührt worden ist. Ich sitze in Paris am Flughafen und habe nicht einmal Lust, mir die französischen Souvenirs etc. anzusehen, Eiffeltürme in allen Größen und I Love Paris Shirts und Kappen, französische Pralinen und Süßigkeiten und etikettierte Accessoires. Ist doch im Prinzip auch nur wie Berlin, außer dass man auf dem Flug keine Brezel, sondern ein Bio-Schoko-Croissant kaufen kann. Bio! Auch die Shops am Flughafen bieten alles an, was grade so in und gesund ist – Matcha, Smoothies, Säfte, you name it. Ich fühle mich übersättigt. Komplett übersättigt. Als hätte ich alles, aber nicht das, was ich wirklich brauche. Ich habe in den letzten Wochen zu viel gegessen, zu viel konsumiert, und mich zu wenig bewegt; während ich mich zuvor zu viel bewegt und zu wenig gegessen habe, oder mich selbst strengstens in meiner Nahrungswahl eingeschränkt habe. 

Ich sehne mich nach einem Leben, wo Konsum zweitrangig ist; wo man alles haben kann, wenn man möchte, aber nichts haben muss, um sich ganz und glücklich zu fühlen. Wo das, was man ist, mehr Sinn macht als das, was man leistet. Wo man beide Füße auf dem Boden verankern und die Flügel ausbreiten und fliegen kann, wie man gerade möchte.

Die letzten Monate in Berlin waren seltsam. Ich habe so viel geleistet, so vieles gleichzeitig gemanagt und geschafft. Ich hatte 2,5 Vollzeitjobs, und alle beinhalteten überdurchschnittlichen körperlichen Einsatz. Oft sah ich mich mit einer Prüfung am nächsten Tag konfrontiert, auf die ich noch nichts gelernt hatte, oder ein Kurs, dessen Choreo ich noch nicht vorbereitet hatte, und war doch gerade dabei, in einem italienischen Restaurant zu kellnern. Die Prüfungsvorbereitungsblätter im Menü versteckt, und bei Gelegenheit zweimal die Zeilen überfliegend. Oder die Choreo mit Spaghetti a la matriciana auf dem Arm nochmal durchgehend. Ich habe oft gedacht „Katharina, was hast du dir jetzt wieder aufgebrockt? Wie willst du das alles schaffen?“ und habe es doch immer geschafft. Morgens als erstes einen Kaffee, dann vor der Schicht im Restaurant oder vor dem Fitnesskurs noch einen, weil ich sonst vermutlich tot umgefallen wäre. Das nagende Gefühl, immer leerer zu werden. Als wäre ich zwar da, zusammengehalten durch den physischen Körper, an dem ich dank der Hirngespinste der Fitnessindustrie so viel feilte, aber innerlich wurde alles immer fragiler, immer schwammiger. Ich, die lächelnde Trainerin auf der Bühne – ich liebe Fitness, ich liebe Schwitzen und Workouts – aber innerlich lauerte eine unterschwellige Panik, die ich in den kurzen Momenten, in denen ich nicht 100% geben musste, zu erahnen begann. Eine schwammige, undefinierte Panik, innerlich auseinanderzufallen. Ich hatte eine Ahnung, glaube ich; in Momenten, wo ich mich gar nicht mehr richtig fand, wo ich nur wie ein Roboter, ein Zombie meine Pflicht erfüllte, ohne Gefühl und ohne Sinn; wenn ich meinen müden, aber funktionierenden Körper zwang, die letzte Hürde auch noch zu nehmen; es ist vermutlich von Vorteil, dass ich einen starken Willen habe und analytisch-vernünftig vieles aus dem Kopf steuern kann, wenn es sein muss – so hielt ich mich selbst in einem positiven Space, der es mir erlaubte, immer weiter zu schwimmen. Ich bin stolz und extrem dankbar, dass ich das geschafft habe, auch wenn ich gerade nicht in der Position bin zu sehen, wohin mich das eigentlich gebracht hat – was habe ich denn davon? Ich weiß es (noch) nicht. Und das ist okay. Jetzt bin ich ja einfach nur hier, am Flughafen von Paris, der Stadt der Liebe, heute bei 18°C und wolkenverhangen deutlich ungemütlicher als Berlin, und meine Ohren haben seit Verlassen des Flugzeugs nicht mehr „aufgemacht“; mit nach innen gedrückten Trommelfellen fühle ich mich wie in meiner eigenen Schaumblase, Watte im Kopf, und Leere im Magen. Ich habe heute noch nichts gegessen; will ich eigentlich auch nicht, es wäre ein schöner Cut, eine Art Reinigungs- und Verdauungstag. System reset. 

In Schiphol, Amsterdam, habe ich mit fünf Stunden meinen längsten Aufenthalt. Ich hatte kurz überlegt, den Flughafen zu verlassen und die Stadt anzuschauen, aber ich fürchte, ich hätte die ganze Zeit zu viel Bammel davor, den Flug zu verpassen und würde aufgrund dessen die Stadt verpassen. Also bleibe ich am Flughafen; hier kann man auch schon recht viel über das erfahren, was das Land (angeblich) ausmacht: Tulpen, Käse, Waffeln, Belgische Schokolade. Belgien? Ich dachte, Amsterdam gehört zu den Niederlanden – ist Belgien nicht nebenan? Ah, whatever. Diese ganzen kleinen europäischen Nachbarländer… wenn mich jemand fragen würde, welche Länder an Deutschland angrenzen, würde ich pompös versagen. Frag mich lieber was zu den Klimazonen in Südafrika. ;)

Apropos Klima: Es ist so kalt hier, dass ich zum ersten Mal seit Mai (gefühlt) einen Pullover unter der Jeansjacke trage! Bin ich froh, dass ich vorsichtshalber eine Menge warme, kuschelige Klamotten in mein Handgepäck geschaufelt habe. Wie es der Zufall will, ist der Pullover, den ich jetzt trage, khakifarben (wie mein Rucksack) – obwohl ich ausnahmsweise mal im modernen City-Look verreisen wollte, sehe ich also schon wieder total „bushy“ aus. There is no escaping it.

Ich hätte gern ein warmes Getränk, weil ich friere, aber alles Warme hier scheint entweder Kaffee oder Zucker zu enthalten… Ich „lese“ ein bisschen in den dänischen Zeitschriften (natürlich nur, um mein Gefühl für Afrikaans aufzufrischen), schaue mir an, was es überall so zu essen und zu trinken gibt, und schreibe zufallsgenerierte, elendig lange Blogeinträge über nichts, einfach weil es Spaß macht, zu schreiben. Wieso habe ich diesen Spaß am Schreiben eigentlich in Berlin nicht? Ich könnte ein Buch schreiben… über nichts! ;)

Der letzte Flug von Amsterdam nach Nairobi ist nicht der beste meines Lebens, auch wenn „the pride of Africa“ – Kenya Airlines – sich nichts zu Schulde kommen lassen. Essen, Decken, Kissen, alles ist plötzlich ein bisschen „minderwertiger“, und eine sehr laute Familie von „coloured people“ (nicht schwarz, nicht weiß) sorgt mit ihren vier Söhnen für eine sehr kurze Nacht. Auch die Visaabfertigung ist alles andere als angenehm, lange Schlange in stickiger Hitze – hinter mir sind Deutsche, die drängeln wie verrückt – aber letztlich schaffe ich es nach Kenya hinein, mit ostafrikanischem Visum, finde Lizzy und ab geht es in ihrem schwarzen Suzuki durch die (zugegebenermaßen nicht vorzeigereifen) Industriegebiete Nairobis, durch dichten, chaotischen Verkehr, mit häufigem Gebrauch der Hupe. Motorradfahrer und Fußgänger bewegen sich einfach dort, wo sie Platz finden, es wird durch Grünanlagen und über Verkehrsinseln gefahren, aber weil sich jeder so langsam bewegt, ist das Ganze zwar unpleasant, aber überschaubar. Ich habe schon zweimal in Afrika erlebt, wie jemand auf der Straße totgefahren wurde – das reicht :)

Ich bin so glücklich, Paviane am Straßenrand zu sehen und die durchdringenden Schreie der Hadedas wieder zu hören – allein das beweist, wie sehr ich Afrika vermisst habe, denn sowohl Paviane als auch Hadedas zählen zu den absoluten „Nervgeistern“ Afrikas. Gleich nach fünf Minuten sehe ich auch schon die ersten sieben (!) Giraffen, eine davon ein Baby – der Nationalpark zieht sich aus irgendeinem Grund bis in die Stadt, was ein ziemlich ulkiger Anblick ist.

„Lizzys Farm“ ist ein kleines Stück Paradies. Vogelfreunde hätten die Zeit ihres Lebens, so viele Spezies zwitschern hier munter vor sich hin. Ich stelle entsetzt fest, dass ich schon wieder so viel vergessen habe aus meinem Guidingkurs – verschiedene Akaziensorten, kleinere Vögel, ID per Vogelstimme – das wusste ich alles mal…! Gut, jetzt habe ich ja Zeit, um alles aufzufrischen. Es gibt verschiedene faszinierende Affensorten hier – keine Paviane, sondern Sykes monkeys und Colobus monkey, eine bedrohte, sehr seltene Spezies – die ich noch nie zuvor gesehen habe und die uns sehr neugierig von oben aus den Bäumen bespitzeln.

Colobus Monkey
Es ist ein heißer Tag, ich habe kaum geschlafen, und so lege ich mich nach dem gemeinsamen Mittagessen faul und schläfrig in den Garten, genieße die klare Luft, die Geräuschkulisse aus all den Vogelstimmen und Insektensummen, einem gelegentlichen Affen- oder Eselsschrei (Lizzy hat eine ganze Herde Esel, ich muss sie mal fragen, wie viele das eigentlich sind) und eine feine Brise. Krass, dass man innerhalb doch relativ kurzer Zeit einfach um ein Drittel der Welt reisen kann, und plötzlich ist alles anders. Plötzlich sind da wieder die ganzen altbekannten und geliebten Geräusche und Gerüche; wie heimelig sich der Klang von übers Wellblechdach galoppierenden Affenpfoten anfühlt! 

Ich bin wieder da, alles ist anders, und alles ist irgendwie beim Alten. Zeitlos und tiefgründig, wie nur Afrika es kann. Der Sand wird sich legen...