Samstag, 4. April 2015

Mystic Rain


Heute hat uns dann doch das typische Kyoto-Wetter eingeholt, nachdem es sich die letzten Tage ja von einer traumhaft frühlingswarmen Seite gezeigt hat. Jetzt erleben wir mal die Seite von Kyoto, die in den japnaischen Filmen immer dann urplötzlich zum Vorschein kommt, wenn Hauptdarstellerin und Hauptdarsteller sich schnell und optisch auf möglichst interessante Weise näherkommen sollen – auch Hollywood greift gerne auf dieses Mittel zurück, aber in japanischen Filmen wirkt es einfach authentischer: Richtig. Regen. Heute ein beständiger, nicht abbrechender Regen - kein urplötzlicher, sturzbachartiger, sodass der Protagonist der Protagonistin edelmütig seinen Regenschirm leiht und anschließend pudelnass ist (die Protagonistin hat aus Prinzip nie einen eigenen Regenschirm dabei, obwohl hier im „realen Kyoto“ der Regenschirm das Accessoire Number One zu sein scheint. Auch bei hübschen jungen Damen übrigens.) Aber ist ja auch kein Film, sondern echt. Obwohl ich mir immer noch oft wie im Film vorkomme. Das liegt teilweise bestimmt daran, dass ich viele japanische Filme geschaut habe und jetzt plötzlich live vor Ort bin, aber auch ohne diese Vorkenntnisse ist Kyoto einfach so irreal... so irreal detailliert, wunderschön, paradiesisch-malerisch, zuckersüß, liebenswürdig, kirschblütenrosa. Daran ändert sich selbst im Regen nichts, obwohl diese Art von Wetter gewöhnungsbedürftig ist. Ich habe mir aber fest vorgenommen, mich daran zu gewöhnen (ein Prozess, den die Japaner glaube ich kurz nach ihrer Geburt bereits abgeschlossen haben).

raining raining raining...


Da wir aus Budget- und Orientierungsgründen noch immer aufs Fahrrad als Transportmittel zurückgreifen, müssen wir uns natürlich entsprechend wetterfest verpacken und laufen den ganzen Tag wie kleine blaue Müllsackaliens durch die Straßen, was nicht nur ich, sondern auch die japanische Öffentlichkeit ziemlich erheiternd findet. Von denen schwingt sich natürlich kaum einer aufs Fahrrad, und es trägt auch niemand eine Regenjacke – die Damen und Herren sind wie immer bis ins Detail gepflegt, gestriegelt und gekämmt, in Seide und kostbare Sommermäntel gehüllt, das Haar sorgfältig hochgesteckt und mit Kirschblütenattrappen verziert. Der einzige Schutz gegen den Regen ist der Regenschirm – der würde mir übrigens bei einem kurzen und zügigen Fußweg vom Auto zum Schrein auch ausreichen. Nach diesem kurzen Fußweg wird dann oft mit einem Taschentuch sorgfältig das Regenwasser von den Schuhen und der Jacke getupft (kein Witz), damit man wieder wie frisch aus dem Ei gepellt ausschaut. 
 
Muellsack-Alien "aus dem Westen"
 Klar, dass wir in unserem knisternden Müllsackoutfit da ein bisschen auffallen. Auffallen tun wir sowieso, weil wir halt doch offensichtlich aus dem Westen kommen und sich viele Japaner daran ganz offensichtlich noch nicht gewöhnt haben (obwohl wir, da bin ich absolut sicher, nicht die ersten Touristen hier sind!) – aber dann noch im sexy Folienschutzmantel auf die Bühne zu latschen, ist natürlich gewissermaßen die Krönung. -Egal. Was soll man machen? Ich war auch trotz Jack-Wolfskin-Jacke und Müllsackumhang am Ende des Tages nass genug, insbesondere an den Füßen, Ärmeln, Hosensäumen und Haaren. Das Schöne am Kyoto-Regen ist, im Vergleich zu „deutschem Regen“, dass er zwar genauso nass ist, aber die ihn umgebenden Temperaturen sehr viel angenehmer sind – so ein ganz dezenter Treibhaus-Effekt, man könnte auch sagen schwül-feucht, was immerhin dafür sorgt, dass man nicht anfängt zu schlottern, sobald man nass ist. Wie Laszlo mir bereits prophezeite: Man gewöhnt sich dran. Man ist sozusagen die ganze Zeit feuchtwarm. Wie ein Pilz. :D

Und das ist noch gar nix gegen den Sommer, den ich mir nicht als Reisezeitraum aussuchen würde – 30°C und 100% Luftfeuchtigkeit. Viki sagt, die Leute sind dann einfach dauernd nass und keiner weiß, ob es Schweiß ist oder Regen. Da ist dann das Accessoire Number One ein Handtuch (oder mehrere). Schön, oder? 

Aus der Serie Mushishi: Genau so verwunschen sehen die Berge bei Regen aus...
Die Schwüle hat übrigens noch eine schöne Seite: Sie kreiert wabernde Nebelbänke im Panorama-Hintergrund und lässt die waldigen Berge rund um Kyoto genau so aussehen wie die goldenen Wandbemalungen in den Tempeln: Der Dampf hängt in den dunkelgrün-rosa-scheckigen Wäldern und sieht, trotz nass und feuchtwarm, einfach nur toll aus. Mystisch. Mushishi-artig. Ich liebe Mushishi (eine japanische Anime-Serie) und habe alle Episoden mehrmals „verschlungen“, völlig fasziniert von der Stimmung, der Atmosphäre und den Ideen dahinter, und ich habe mich immer gewundert, wie die Autorin auf so krasse Phantasien kommt. Jetzt, wo ich Kyoto kennen lerne, wundert mich gar nichts mehr. Geister, Waldwesen, Magie, Mystik, Übernatürliches, große und kleine Naturgötter – Kyoto und das Leben hier sind voll davon! 

Kleiner Waldschrein mit Maeusen

Wir radeln jedenfalls durch den Regen in den Osten der Stadt, wo sie leicht ansteigt und dann von waldigen Bergen umsäumt wird. Dort, in der Übergangszone zwischen Stadt und Wald, finden sich ganz viele Tempel und Schreine. Man kann nur vermuten, wie das Leben hier früher mal gewesen sein muss. Die Flüsse führen kristallklares Wasser, und obwohl sie nicht tief sind, sind sie voller frisch-fröhlicher Fische (auch heute noch!) und sogar ein paar Schildkröten. Die Wälder sind absolut sattgrün, reich und prächtig, bei diesem Wetter wachsen natürlich viele Farne, Moose (und bestimmt auch viele lustige Pilze!) und eben die japan-typischen total filigranen Bäume mit ihren tausendfach verknorpelten Ästchen und den superfeinen winzig-detaillierten Blättchen, Früchtchen und Knöspchen in allen Formen und Farben. 
Sakura - liebliche, filigrane Schoenheit im Ueberfluss
 Dazu die Kirschbäume – Sakura – mit ihrem unwiderstehlich lieblichen Weiß- oder Rosaschaum, der aus ganz vielen kleinen Blüten besteht, von denen jede einzelne so perfekt ist, dass die Asiaten tatsächlich jedes Jahr aufs Neue Millionen von Nahaufnahmen von ihnen schießen. Wenn man viele japanische/chinesische Facebookfreunde hat, kann man während der Sakura-Saison bestimmt seitenlang gepostete Kirschblütenfotos bewundern :D Ich bin ein bisschen vom Thema abgekommen. Von der Vorstellung, wie das früher wohl war. Der ganze Waldrand ist voller kleiner und größerer Schreine, und jeder einzelne Schrein für sich ist absolut paradiesisch. Ich liebe sie so sehr!
 
Ein besonders verwunschener, alter Schrein, etwas versteckt am Waldrand.
Bewacht von einem Falken (links) und einem Affen (rechts)
Ich liebe die Natur ja grundsätzlich und fühle mich seit jeher hingezogen zu verwunschenen Waldquellen, besonders alten und mächtigen Bäumen, Lichtungen voller saftigem Farn usw… und hier wurde praktisch aus jeder dieser Stätten ein kleines Heiligtum gemacht. Wenn ein Plätzchen so wunderschön ist, dann muss es der Aufenthaltsort oder die Wohnung/Manifestation eines göttlichen Wesens sein. Völlig klar. Also wird eine entsprechende „Wohnung“ errichtet, voller klitzekleiner Details, voller Liebe zur Natur, und voll von mystischen Vorstellungen und Fabelwesen. Wobei, natürlich nicht „Fabel“wesen, sondern göttliche Botschafter, die in Form von Tieren auftreten. Und da kann man dann jeden Tag hingehen – was man sowieso gerne tut, weil einem solche Plätzchen in der Natur so viel Ruhe, Kraft und Energie schenken – und Zwiegespräche mit dem entsprechenden Kami halten. 

Ich habe festgestellt, dass meine Vorstellungen von „Zwiegesprächen mit dem entsprechenden Kami“ total "westlich" (?) sind. Beziehungsweise so, wie ich eben aufgewachsen bin – in der Kirche ist man leise, ernst und feierlich. Alles ist groß, respekteinflößend, formal. Vor allem der Ernst, die feierliche, besinnliche Stimmung war in mir total mit Glaubensritualen verknüpft. Das fällt einem natürlich erst auf (wie so vieles), wenn man das Gegenteil erlebt: Die Leute „latschen“ an den Schrein heran, lachen, klingeln, klatschen, verbeugen sich, murmeln ihre Anliegen (ich würde so gern verstehen, was sie sagen!), lachen wieder… sie sind ganz leicht und fröhlich und scherzen oft! An einem Schrein, der „nur“ ein großer Felsblock war und auch nur mit japanischen Schriftzeichen betitelt war (sodass ich keine Ahnung habe, mit wem man da Kontakt aufnehmen kann), habe ich eine junge Frau beobachtet. Sie las die Inschrift, fing dann an auf typisch japanisch-süße Art herzlich zu lächeln, als hätte sie gerade jemanden getroffen, den sie sehr liebt und schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat, und fing an mit ihrem Gebetsritual, wobei ihr das Lächeln die ganze Zeit auf dem Gesicht blieb. Ich musste auch lächeln beim Zusehen – und da fiel mir das auf, wie schön das ist, wie anders die Beziehung zu den Gottheiten/Geistern auf diese Art und Weise sein muss – voller Freude, Liebe und Leichtigkeit, so als seien die Kami „auch nur Menschen“. Sind sie auch, gewissermaßen, zumindest sind sie viel menschlicher als die meisten Götter aus den bekannten Weltreligionen. Ein bisschen wie die Götter aus dem alten Rom – mit Ecken und Kanten. An fast jedem größeren Schrein steht auch ein hübscher Vorrat an Sake-Fässern, und vor die kleinen Schreine im Wald stellen die Leute oft Gläser/Tassen mit Sake. Hm, Christen trinken auch Wein in der Kirche… Christen, wohlgemerkt; Gott/Jesus wird meines Wissens nach keiner angeboten. Wäre mal eine Idee. :) 
Sake fuer die Kami
Sehr süß finde ich auch, dass die Statuen der Gottheiten (meist in Tierform) oft ganz liebevoll geschmückt und bekleidet werden, z.B. mit Blumen- oder Pflanzenkränzen, einem roten Bet-Tuch um den Hals oder den roten Blüten, die bereits vom Baum gefallen sind (nie würden die Japaner die Blüten pflücken. Sie haben so großen Respekt vor der Natur, dass z.B. auch niemand Kirschblüten pflückt, und wenn die Leute Hanami feiern und unter den Bäumen picknicken, lehnt sich nie jemand an den Baum. Es werden auch keine Fahrräder oder sonstwas an Bäume gelehnt. Und wenn Bäume irgendwohin wachsen, wo sie sich nicht mehr selbst halten oder ausbalancieren können, werden sie nicht etwa abgesägt oder gestutzt, sondern man baut kunstvolle Holzgestelle und –konstruktionen, um die Äste zu stützen. Der Baum wird schon wissen, wo er hinwill! Ich finde das toll.)

Maus-Guardian mit offenem Mund beginnt das AOM: "AO-

Maus-Guardian mit geschlossenem Mund beendet es: "-M"
(man betrachte die goldige Blumendeko)

Shinto verehrt ja nicht nur Kami, sondern auch die Geister der Ahnen, was eine Erklärung dafür sein könnte, warum die Friedhöfe so ausgefeilte Kunstwerke sind. Jedes einzelne Grab ist ein kleiner Schrein, voller detaillierter Pflänzchen, Blümchen, Gebetstafeln usw.! In Deutschland kamen mir Friedhöfe immer unvermeidlich tot vor, und manchmal ergriff mich sogar eine etwas unangenehme Stimmung („Gruseln“ wäre zu viel gesagt, aber eben doch so ein Gefühl, dass immerhin offensichtlich das Bedürfnis für folgenden Gedanken bestand: Das sind nur tote Menschen. Das ist alles ganz natürlich.) Auf den Friedhöfen hier würde einem dieser Gedanke glaube ich nicht kommen. 
 
Friedhof / Schreine fuer die Geister der Ahnen
Das Gefühl, das ich habe, ist ganz anders, als würde man von einer freundlichen, warmen Energie empfangen – nicht von kalten „sterblichen Überresten“. Und die Menschen genießen offenbar den Kontakt mit den Vorfahren, schreiben ihnen Botschaften, bringen Blumensträuße (ja, ich weiß, das tun wir „Westerner“ auch) und bekommen einmal pro Jahr Besuch von ihnen. Im August, glaube ich. :D Da kommen alle Geister zu Besuch ins Diesseits, und zu Ende der Besuchswoche werden auf fünf Hügeln rund um Kyoto riesige Buchstaben angezündet (ja, mit Feuer), die den Geistern den Weg zurück ins Jenseits weisen. (Okuribi)


brennender Buchstabe ueber der Stadt, als Wegweiser fuer die Ahnen (Quelle: Internet) :)

Ihr seht schon, warum man hier leicht einen Kulturschock bekommen kann. Praktisch alles ist anders, alles so neu, so faszinierend, und ich sauge so viel ich kann in mir auf. Und dann bin ich oft auch noch emotional sehr empfänglich für Energien aller Art… sodass sich ganz neue innerliche Welten öffnen, für die es absolut keine Worte gibt. Macht aber nix. Vielleicht finde ich eines Tages einen Weg, sie auszudrücken.

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