Heute hat uns dann doch das typische
Kyoto-Wetter eingeholt, nachdem es sich die letzten Tage ja von einer traumhaft
frühlingswarmen Seite gezeigt hat. Jetzt erleben wir mal die Seite von Kyoto,
die in den japnaischen Filmen immer dann urplötzlich zum Vorschein kommt, wenn
Hauptdarstellerin und Hauptdarsteller sich schnell und optisch auf möglichst
interessante Weise näherkommen sollen – auch Hollywood greift gerne auf dieses
Mittel zurück, aber in japanischen Filmen wirkt es einfach authentischer:
Richtig. Regen. Heute ein beständiger, nicht abbrechender Regen - kein
urplötzlicher, sturzbachartiger, sodass der Protagonist der Protagonistin
edelmütig seinen Regenschirm leiht und anschließend pudelnass ist (die
Protagonistin hat aus Prinzip nie einen eigenen Regenschirm dabei, obwohl hier
im „realen Kyoto“ der Regenschirm das Accessoire Number One zu sein scheint.
Auch bei hübschen jungen Damen übrigens.) Aber ist ja auch kein Film, sondern
echt. Obwohl ich mir immer noch oft wie im Film vorkomme. Das liegt teilweise
bestimmt daran, dass ich viele japanische Filme geschaut habe und jetzt
plötzlich live vor Ort bin, aber auch ohne diese Vorkenntnisse ist Kyoto
einfach so irreal... so irreal detailliert, wunderschön, paradiesisch-malerisch,
zuckersüß, liebenswürdig, kirschblütenrosa. Daran ändert sich selbst im Regen
nichts, obwohl diese Art von Wetter gewöhnungsbedürftig ist. Ich habe mir aber
fest vorgenommen, mich daran zu gewöhnen (ein Prozess, den die Japaner glaube
ich kurz nach ihrer Geburt bereits abgeschlossen haben).
raining raining raining... |
Da wir aus Budget- und Orientierungsgründen
noch immer aufs Fahrrad als Transportmittel zurückgreifen, müssen wir uns
natürlich entsprechend wetterfest verpacken und laufen den ganzen Tag wie
kleine blaue Müllsackaliens durch die Straßen, was nicht nur ich, sondern auch die
japanische Öffentlichkeit ziemlich erheiternd findet. Von denen schwingt sich
natürlich kaum einer aufs Fahrrad, und es trägt auch niemand eine Regenjacke –
die Damen und Herren sind wie immer bis ins Detail gepflegt, gestriegelt und
gekämmt, in Seide und kostbare Sommermäntel gehüllt, das Haar sorgfältig
hochgesteckt und mit Kirschblütenattrappen verziert. Der einzige Schutz gegen
den Regen ist der Regenschirm – der würde mir übrigens bei einem kurzen und
zügigen Fußweg vom Auto zum Schrein auch ausreichen. Nach diesem kurzen Fußweg
wird dann oft mit einem Taschentuch sorgfältig das Regenwasser von den Schuhen
und der Jacke getupft (kein Witz), damit man wieder wie frisch aus dem Ei gepellt
ausschaut.
Klar, dass wir in unserem knisternden Müllsackoutfit da ein bisschen
auffallen. Auffallen tun wir sowieso, weil wir halt doch offensichtlich aus dem
Westen kommen und sich viele Japaner daran ganz offensichtlich noch nicht gewöhnt
haben (obwohl wir, da bin ich absolut sicher, nicht die ersten Touristen hier
sind!) – aber dann noch im sexy Folienschutzmantel auf die Bühne zu latschen,
ist natürlich gewissermaßen die Krönung. -Egal. Was soll man machen? Ich war
auch trotz Jack-Wolfskin-Jacke und Müllsackumhang am Ende des Tages nass genug,
insbesondere an den Füßen, Ärmeln, Hosensäumen und Haaren. Das Schöne am
Kyoto-Regen ist, im Vergleich zu „deutschem Regen“, dass er zwar genauso nass
ist, aber die ihn umgebenden Temperaturen sehr viel angenehmer sind – so ein
ganz dezenter Treibhaus-Effekt, man könnte auch sagen schwül-feucht, was
immerhin dafür sorgt, dass man nicht anfängt zu schlottern, sobald man nass
ist. Wie Laszlo mir bereits prophezeite: Man gewöhnt sich dran. Man ist
sozusagen die ganze Zeit feuchtwarm. Wie ein Pilz. :D
Und das ist noch gar nix gegen den Sommer,
den ich mir nicht als Reisezeitraum aussuchen würde – 30°C und 100%
Luftfeuchtigkeit. Viki sagt, die Leute sind dann einfach dauernd nass und
keiner weiß, ob es Schweiß ist oder Regen. Da ist dann das Accessoire Number
One ein Handtuch (oder mehrere). Schön, oder?
Aus der Serie Mushishi: Genau so verwunschen sehen die Berge bei Regen aus... |
Die Schwüle hat übrigens noch eine schöne
Seite: Sie kreiert wabernde Nebelbänke im Panorama-Hintergrund und lässt die
waldigen Berge rund um Kyoto genau so aussehen wie die goldenen Wandbemalungen
in den Tempeln: Der Dampf hängt in den dunkelgrün-rosa-scheckigen Wäldern und
sieht, trotz nass und feuchtwarm, einfach nur toll aus. Mystisch.
Mushishi-artig. Ich liebe Mushishi (eine japanische Anime-Serie) und habe alle Episoden
mehrmals „verschlungen“, völlig fasziniert von der Stimmung, der Atmosphäre und
den Ideen dahinter, und ich habe mich immer gewundert, wie die Autorin auf so
krasse Phantasien kommt. Jetzt, wo ich Kyoto kennen lerne, wundert mich gar
nichts mehr. Geister, Waldwesen, Magie, Mystik, Übernatürliches, große und
kleine Naturgötter – Kyoto und das Leben hier sind voll davon!
Kleiner Waldschrein mit Maeusen |
Wir radeln jedenfalls durch den Regen in
den Osten der Stadt, wo sie leicht ansteigt und dann von waldigen Bergen
umsäumt wird. Dort, in der Übergangszone zwischen Stadt und Wald, finden sich
ganz viele Tempel und Schreine. Man kann nur vermuten, wie das Leben hier
früher mal gewesen sein muss. Die Flüsse führen kristallklares Wasser, und
obwohl sie nicht tief sind, sind sie voller frisch-fröhlicher Fische (auch
heute noch!) und sogar ein paar Schildkröten. Die Wälder sind absolut sattgrün,
reich und prächtig, bei diesem Wetter wachsen natürlich viele Farne, Moose (und
bestimmt auch viele lustige Pilze!) und eben die japan-typischen total
filigranen Bäume mit ihren tausendfach verknorpelten Ästchen und den
superfeinen winzig-detaillierten Blättchen, Früchtchen und Knöspchen in allen
Formen und Farben.
Sakura - liebliche, filigrane Schoenheit im Ueberfluss |
Dazu die Kirschbäume – Sakura – mit ihrem unwiderstehlich
lieblichen Weiß- oder Rosaschaum, der aus ganz vielen kleinen Blüten besteht,
von denen jede einzelne so perfekt ist, dass die Asiaten tatsächlich jedes Jahr
aufs Neue Millionen von Nahaufnahmen von ihnen schießen. Wenn man viele
japanische/chinesische Facebookfreunde hat, kann man während der Sakura-Saison
bestimmt seitenlang gepostete Kirschblütenfotos bewundern :D Ich bin ein
bisschen vom Thema abgekommen. Von der Vorstellung, wie das früher wohl war. Der
ganze Waldrand ist voller kleiner und größerer Schreine, und jeder einzelne
Schrein für sich ist absolut paradiesisch. Ich liebe sie so sehr!
Ein besonders verwunschener, alter Schrein, etwas versteckt am Waldrand. Bewacht von einem Falken (links) und einem Affen (rechts) |
Ich liebe die
Natur ja grundsätzlich und fühle mich seit jeher hingezogen zu verwunschenen
Waldquellen, besonders alten und mächtigen Bäumen, Lichtungen voller saftigem
Farn usw… und hier wurde praktisch aus jeder dieser Stätten ein kleines
Heiligtum gemacht. Wenn ein Plätzchen so wunderschön ist, dann muss es der
Aufenthaltsort oder die Wohnung/Manifestation eines göttlichen Wesens sein.
Völlig klar. Also wird eine entsprechende „Wohnung“ errichtet, voller
klitzekleiner Details, voller Liebe zur Natur, und voll von mystischen
Vorstellungen und Fabelwesen. Wobei, natürlich nicht „Fabel“wesen, sondern
göttliche Botschafter, die in Form von Tieren auftreten. Und da kann man dann
jeden Tag hingehen – was man sowieso gerne tut, weil einem solche Plätzchen in
der Natur so viel Ruhe, Kraft und Energie schenken – und Zwiegespräche mit dem
entsprechenden Kami halten.
Ich habe festgestellt, dass meine Vorstellungen
von „Zwiegesprächen mit dem entsprechenden Kami“ total "westlich" (?) sind. Beziehungsweise so, wie ich eben aufgewachsen bin – in der Kirche ist man leise, ernst und feierlich.
Alles ist groß, respekteinflößend, formal. Vor allem der Ernst, die feierliche,
besinnliche Stimmung war in mir total mit Glaubensritualen verknüpft. Das fällt
einem natürlich erst auf (wie so vieles), wenn man das Gegenteil erlebt: Die
Leute „latschen“ an den Schrein heran, lachen, klingeln, klatschen, verbeugen
sich, murmeln ihre Anliegen (ich würde so gern verstehen, was sie sagen!),
lachen wieder… sie sind ganz leicht und fröhlich und scherzen oft! An einem
Schrein, der „nur“ ein großer Felsblock war und auch nur mit japanischen
Schriftzeichen betitelt war (sodass ich keine Ahnung habe, mit wem man da
Kontakt aufnehmen kann), habe ich eine junge Frau beobachtet. Sie las die
Inschrift, fing dann an auf typisch japanisch-süße Art herzlich zu lächeln, als
hätte sie gerade jemanden getroffen, den sie sehr liebt und schon seit Jahren
nicht mehr gesehen hat, und fing an mit ihrem Gebetsritual, wobei ihr das
Lächeln die ganze Zeit auf dem Gesicht blieb. Ich musste auch lächeln beim
Zusehen – und da fiel mir das auf, wie schön das ist, wie anders die Beziehung
zu den Gottheiten/Geistern auf diese Art und Weise sein muss – voller Freude,
Liebe und Leichtigkeit, so als seien die Kami „auch nur Menschen“. Sind sie
auch, gewissermaßen, zumindest sind sie viel menschlicher als die meisten
Götter aus den bekannten Weltreligionen. Ein bisschen wie die Götter aus dem
alten Rom – mit Ecken und Kanten. An fast jedem größeren Schrein steht auch ein
hübscher Vorrat an Sake-Fässern, und vor die kleinen Schreine im Wald stellen
die Leute oft Gläser/Tassen mit Sake. Hm, Christen trinken auch Wein in der
Kirche… Christen, wohlgemerkt;
Gott/Jesus wird meines Wissens nach keiner angeboten. Wäre mal eine Idee. :)
Sake fuer die Kami |
Sehr süß finde ich auch, dass die Statuen der Gottheiten (meist in Tierform)
oft ganz liebevoll geschmückt und bekleidet werden, z.B. mit Blumen- oder
Pflanzenkränzen, einem roten Bet-Tuch um den Hals oder den roten Blüten, die
bereits vom Baum gefallen sind (nie würden die Japaner die Blüten pflücken. Sie haben so großen Respekt
vor der Natur, dass z.B. auch niemand Kirschblüten pflückt, und wenn die Leute
Hanami feiern und unter den Bäumen picknicken, lehnt sich nie jemand an den Baum. Es werden auch keine Fahrräder oder
sonstwas an Bäume gelehnt. Und wenn Bäume irgendwohin wachsen, wo sie sich
nicht mehr selbst halten oder ausbalancieren können, werden sie nicht etwa
abgesägt oder gestutzt, sondern man baut kunstvolle Holzgestelle und
–konstruktionen, um die Äste zu stützen. Der Baum wird schon wissen, wo er
hinwill! Ich finde das toll.)
Maus-Guardian mit offenem Mund beginnt das AOM: "AO- |
Maus-Guardian mit geschlossenem Mund beendet es: "-M" (man betrachte die goldige Blumendeko) |
Shinto verehrt ja nicht nur Kami, sondern
auch die Geister der Ahnen, was eine Erklärung dafür sein könnte, warum die
Friedhöfe so ausgefeilte Kunstwerke sind. Jedes einzelne Grab ist ein kleiner
Schrein, voller detaillierter Pflänzchen, Blümchen, Gebetstafeln usw.! In
Deutschland kamen mir Friedhöfe immer unvermeidlich tot vor, und manchmal
ergriff mich sogar eine etwas unangenehme Stimmung („Gruseln“ wäre zu viel
gesagt, aber eben doch so ein Gefühl, dass immerhin offensichtlich das
Bedürfnis für folgenden Gedanken bestand: Das
sind nur tote Menschen. Das ist alles ganz natürlich.) Auf den Friedhöfen
hier würde einem dieser Gedanke glaube ich nicht kommen.
Das Gefühl, das ich
habe, ist ganz anders, als würde man von einer freundlichen, warmen Energie
empfangen – nicht von kalten „sterblichen Überresten“. Und die Menschen
genießen offenbar den Kontakt mit den Vorfahren, schreiben ihnen Botschaften,
bringen Blumensträuße (ja, ich weiß, das tun wir „Westerner“ auch) und bekommen
einmal pro Jahr Besuch von ihnen. Im August, glaube ich. :D Da kommen alle
Geister zu Besuch ins Diesseits, und zu Ende der Besuchswoche werden auf fünf
Hügeln rund um Kyoto riesige Buchstaben angezündet (ja, mit Feuer), die den
Geistern den Weg zurück ins Jenseits weisen. (Okuribi)
brennender Buchstabe ueber der Stadt, als Wegweiser fuer die Ahnen (Quelle: Internet) :) |
Ihr seht schon, warum man hier leicht einen
Kulturschock bekommen kann. Praktisch alles
ist anders, alles so neu, so faszinierend, und ich sauge so viel ich kann in
mir auf. Und dann bin ich oft auch noch emotional sehr empfänglich für Energien
aller Art… sodass sich ganz neue innerliche Welten öffnen, für die es absolut
keine Worte gibt. Macht aber nix. Vielleicht finde ich eines Tages einen Weg,
sie auszudrücken.
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