Donnerstag, 27. Dezember 2012

Neuseelands "silent war"



Heute widmen wir uns mal der Geschichte und Kultur Neuseelands.

Auf die Frage hin, was wir gerne noch in der Gegend sehen würden, melde ich die Kawiti Glowworm Caves an. Glühwürmchen in Höhlen, sounds good to me!? Marzena weiß zunächst gar nicht, wovon ich rede; „Wie, wir haben Glühwürmchen in Neuseeland? Und die sind auch noch weltbekannt?“ Ich zeige ihr die Homepage. Ja, Glühwürmchen, gar nicht mal so weit weg von hier. Sie studiert aufmerksam die Website und rümpft irgendwann die Nase. „Da gehen wir nicht hin“, meint sie schließlich, „das ist eine Maori-Familie.“ Ich so: „Was? Hä?“ Und so erhalte ich ausführliche Information darüber, dass die Maoris und die weißen Europäer hier einen „silent war“ führen und dass wir als gebildete Weiße deshalb unmöglich in eine Höhle gehen können, die von Kannibalen geführt wird. Ich überlege zunächst, ob sie mich veralbern will… aber sie meint es tatsächlich ernst.


Und weil ich von diesem silent war offenbar so wenig verstehe, erstellt uns Marzena ein kulturell wertvolles Programm. Wir fahren nach Waitangi, einem historisch super-wertvollen Platz, den man unbedingt besucht haben muss, wenn man in Neuseeland war.  Wir benutzen den polnischen Eingang, der uns 25 NZD pro Person erspart… weil ich feststelle, dass alle, die den rechtmäßigen Eingang benutzt haben, einen orangeleuchtenden Kleber auf der Jacke tragen, kratze ich zwei verlorene orangene Kleber für Laszlo und mich vom Asphalt ab und klebe sie auf unsere Shirts. Sieht doch gleich viel besser aus ;) Und das Sicherheitspersonal lächelt uns nett zu.
Die Aussicht in Waitangi ist schon mal gut...
Zurück zum Sinn der Veranstaltung. Waitangi ist einer der berühmtesten historischen Plätze Neuseelands, DENN: Hier wurde am 6. Januar 1940 der berühmte Vertrag von Waitangi unterzeichnet, englisch: Treaty of Waitangi. 1933 kam James Busby als der erste Gesandte des Vereinigten Königreiches nach Neuseeland, weil die Briten glaubten, Neuseeland gehöre zu ihrem Einflussgebiet und sie müssten die Konflikte der Maoris untereinander und die zwischen Maoris und Einwanderern beschwichtigen. (Selbstverständlich waren sämtliche Landansprüche und Konkurrenzkämpfe mit anderen europäischen Mächten, z.B. Frankreich, vollkommen unwichtig und es ging einzig allein um den Frieden unter den Maoris).


Ach, im Grunde ist es (leider) immer dieselbe Geschichte. Die scheint sich auf der Welt immer und immer wieder zu doppeln. Eine mächtige, zeitlose Geschichte, die als eine menschliche Idee dauerhaft zu existieren scheint und hin und wieder irgendwo auf der Welt gepackt und in eine individuelle Geschichte umgesetzt wird. Wie ein Template, auf das jeder zugreifen und es individualisieren kann. Und das haben die Briten und Maoris getan.

"What the British brought to New Zealand" (unter anderem Wildschweine, Hunde und Katzen, die das bislang gänzlich ohne Landsäugetiere funktionierende Ökosystem vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht haben)
Im Vertrag von Waitangi wurde festgestellt, dass die zunehmende Einwanderung aus Europa und Australien es erforderlich macht, dass „geordnete Verwaltungsstrukturen“ geschaffen werden. Dabei müssen (natürlich) die Rechte und das Eigentum der Eingeborenen („Aborigines“) geschützt werden und Sicherheit und Ordnung aufrecht erhalten werden. Diese Bedingung wurde, wie es dieser Geschichte eigen ist, nur sehr sporadisch erfüllt. Im Gegenzug dazu erkennen die Eingeborenen die Souveränität der britischen Krone über alle Inseln Neuseelands an. Diese Bedingung wurde hingegen, ebenfalls im Template der Geschichte verankert, mit allen Mitteln durchgesetzt. Die weiße, wohlerzogene, kultivierte Aristokratie gegen kannibalische, primitive, über und über tätowierte Ureinwohner. Affen. Die sehr dankbar sind, dass endlich jemand kommt und ihnen beibringt, wie man sich kultiviert benimmt, und die aus lauter Dankbarkeit einen Vertrag unterzeichnen, dass sie ab jetzt der englischen Krone unterstehen und ihr Land ab jetzt „verkäuflich“ ist. (Die Wahl ist relativ simpel. Ich würde auch eher einen Vertrag unterzeichnen als mein Volk abschlachten zu lassen.)


Zu dieser großen Zeremonie kamen also zahlreiche Maori-Häuptlinge verschiedener Stämme zusammen, um vor dem wundervollen Anwesen von Busby eine Zeremonie abzuhalten und anschließend den friedensspendenden Vertrag zu unterschreiben. Die Boote, sogenannte Waka Tauas, mit denen die Ureinwohner ankamen, sind in Waitangi ausgestellt und zugegebenermaßen recht beeindruckend. Mit viel Sorgfalt wurde zunächst ein geeigneter Kauri-Baum ausgewählt, der in einer großen Zeremonie und unter vielen Segenssprüchen gefällt wurde. Die wetterfeste Windseite wurde dann als „Unterseite“ des Bootes benutzt und die weiche, wetterabgewandte Seite mit steinernen Werkzeugen ausgehöhlt. Die Bäume waren in der Regel rund zwei Meter dick und 25 Meter lang, und in dem Waka Taua, das hier ausgestellt ist, haben 80 Paddler Platz plus 55 Passagiere.

So sah das Boot aus, als es noch schwimmen durfte...
...heute sitzt es auf dem Trockenen und dient als Kulisse für Touristenfotos
Dann schauen wir uns noch das Haupthaus an, in dem Busbys Familie und einige andere lebten und Kekse aßen und gelegentlich, in ihrer großen Güte, unzivilisierte Maoris einluden, um ihnen beizubringen, wie man Messer und Gabel benutzt. 
"Guck, so hält man Besteck, du wilder unzivilisierter Kannibale!"
Der durchschnittliche Deutsche nickt jetzt mit dem Kopf und sagt „Jaja, die armen Maoris, vollkommen kulturell zerstört, und diese bösen Weißen; uralte Geschichte, kann‘s langsam nicht mehr hören…“ Aber interessanterweise passiert hier in Waitangi genau das Gegenteil, und ich staune und muss sehr oft unfreiwillig lachen, während ich durch den Park marschiere. Die meisten Leute sind natürlich Touristen, aber es gibt auch einige weiße Neuseeländer – zum Beispiel Marzena – die sich das hier ansehen und die das ziemlich ernst nehmen. Nach wie vor sind erstaunlich viele der europäisch-stämmigen Kiwis der Meinung, dass sie hier das Sagen haben und die Maoris nie wirklich von ihrem „Affentum“ abgekommen sind. Sie stehen mit ernsten, hochmütigen Mienen vor den alten Bildern und betrachten sich ihre eigene Geschichte und sind stolz, englisch zu sein und den Kampf gegen die Kannibalen gewonnen zu haben. 

"Civilized aristocracy facing wild madness"
Das ganze Museum ist aber auch in diesem Ton aufgezogen – sogar zeitgemäße Illustrationen und die Texte zwingen die Besucher sozusagen in diese Richtung, was mich ebenfalls total überrascht. Wir Deutschen sind offenbar sehr vorgeprägt und daher besonders in diesem Metier sehr vorsichtig; da wäre so etwas nicht möglich. Aber wie in diesem Museum die Briten gebauchpinselt und beinahe heilig gesprochen werden, ist so unglaublich, dass ich die meiste Zeit nur lachen muss. Und Lazslo macht mit, was das Ganze unheimlich amüsant macht. Wir ziehen durch das Museum, machen die hochmütig-ernsten Mienen der Museumsbesucher nach und sagen hochwertige Dinge wie „Just imagine, Martha once dined at this wooden table!“ (Das steht da wirklich so geschrieben… was für ein unglaublich wichtiges historisches Ereignis! Außerdem steht da, welche britischen Nachbarn der zweitältesten Tochter von Mister Kapitän William Hobson eine kleine Spielzeugpuppe geschenkt haben und wann… und anderer Nonsens, dessen Ernsthaftigkeit man eigentlich wirklich kaum für möglich halten kann. Und wenn man die Bilder dazu sieht, diese hochmütigen Mienen von steifen Herren, so vollgepumpt mit ihrem eigenen Ego, dass kein Platz mehr für irgendetwas anderes bleibt…)


Sehr groß aufgezogen und voller Nationalstolz wird z.B. die große Güte des Mister Busby proklamiert, indem ein Auszug eines Briefes veröffentlicht wird, in dem er einen Maori-Häuptling beschreibt: „A man, one would imagine, in his forty-fifth year; he was six feet two inches high, and was perfectly handsome both as to features and figure; though very much tattooed, the benignity and even beauty (!) of his countenance were not destroyed by his frightful operation.“


Wieder mal dieselbe alte Geschichte. Kolonialzeit. Afrika. Amerika. Whereever you want to look. Das sind zwar keine Menschen, sondern nur Affen – aber immerhin hübsche Affen, gelegentlich…


Und dann das Freundschaftsangebot des Königs von England an die Maori-Häuptlinge, starting like this: „The king is sorry fort he injuries which you inform Him that the people of New Zealand have suffered from some of His subjects…..“ Hahaha.
Wilde, grausame Kannibalen: Gewehre, nackte Brüste und zum Korbschleppen geboren!
Anschließend schauen wir uns noch eine cultural performance an; echte Maoris tanzen einen echten Haka. Mit unseren orangenen Klebern dürfen wir alles :) Marzena kommentiert die Performance mit „Look at these cannibales“ und ich muss mich wirklich beherrschen, um nicht wieder loszulachen… 



Mein Interesse an der Maori-Kultur war ja schon ein eher wichtiger Grund für die Entscheidung für Neuseeland; da es eine relativ junge Kultur ist (800 Jahre) und erst vor nicht allzu langer Zeit (ca. 150 Jahre) ihre Zerstörung begann, hatte ich doch die naive Hoffnung, irgendwo in Neuseeland einen Funken aufzufangen von dem, was da mal war. Einen Funken von Ur-Kultur, von unverfälschten, ursprünglichen Menschen. Aber ich muss eingestehen, dass es diesen Funken nicht mehr gibt. Ich habe jetzt so viele Maoris getroffen, mit ihnen gesprochen, sie beobachtet, mit ihnen gelebt; ich habe beobachtet, wie sie ihre Kultur aufrecht erhalten wollen, wie sie versuchen, an etwas festzuhalten, was nicht mehr lebt; sie schicken ihre Kinder in Maori-Schulen, schauen Maori-Fernsehen, hören Maori-Radio, spielen alte Maori-Lieder auf selbstgeschnitzten Maori-Flöten, lesen in Maori-Geschichtsbüchern, benutzen „heilige“ Maori-Begriffe, erzählen jedem, der es wissen will, voller Stolz alles über „heilige“ Maori-Plätze, von denen es hier nur so wimmelt… aber der Funke, nach dem ich gesucht habe, ist erloschen. Die Maori-Kultur wird nur noch künstlich beatmet, aber das Herz hat aufgehört zu schlagen. Da ist nichts Echtes mehr, nichts, das mein Herz wirklich berühren konnte. Vielleicht findet man irgendwo in Neuseeland, versteckt, ohne Kontakt zur Außenwelt, noch reine, unverfälschte Maoris; aber sollte es sie geben, so werden sie sicherlich alles dafür tun, NICHT gefunden zu werden.

Panorama von Waitangi - überall rund um die Nordinsel diese wunderschönen "Inselfetzen"...
 Das ist ein ziemlich ernüchterndes Fazit, ich weiß, und ich habe es auch schon in Botswana ziehen müssen. Mit der afrikanischen Kultur passiert nämlich genau dasselbe. Dieselbe alte Geschichte, nur leicht variiert über einen anderen Kontinent gestülpt. Das Ergebnis sind entwurzelte Menschen, die glauben, ihre Wurzeln aufrecht zu erhalten und noch immer volle Verbindung zu ihren Ursprüngen zu besitzen. Die tendenziell eher nicht einsehen, warum man arbeiten sollte („das war die Idee der Weißen, nicht unsere!“) und auch nicht, warum man Weißen gegenüber ehrlich sein müsste. Der Ursprung des „Krieges“ ist mit der ursprünglichen Kultur längst verloren gegangen, und der „silent war“, den Marzena und viele andere weiße Neuseeländer so enthusiastisch führen, ist ein completely artificial war, auf beiden Seiten. Ich verliere langsam den Glauben daran, dass man irgendwohin reisen kann/muss, um echte, ehrliche, freie Menschen zu finden… obwohl es ja mit Laszlo funktioniert hat – ich musste nach Neuseeland reisen, um einen Ungarn zu treffen, der die letzten Jahrzehnte in Südafrika verbracht hat ;)




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